Die Exkursion beginnt mit einem kleinen Wunschkonzert. Christoph Vogel steht am Rand einer weiten Grünfläche im Süden des Aargauer Dörfleins Brittnau. In der Hand hält der Biologe und Mitarbeiter der Schweizerischen Vogelwarte Sempach ein Büchlein mit Bildern der Nester und Gelege mitteleuropäischer Vogelarten. Einige Seiten hat er mit Post-it-Zettelchen markiert. «Gut möglich, dass wir das Nest einer Gartengrasmücke oder einer Mönchsgrasmücke sehen werden», sagt er und zeigt auf ein klassisches Vogelnest: halbkugelig und aus Gräsern geflochten.

Dann schlägt er eine andere Seite auf. Es zeigt ein zierliches, napfartiges Nest, das zwischen Schilfhalmen hängt. «So baut der Sumpfrohrsänger.» Bei einer Begehung vor eineinhalb Jahren habe er am Ufer des Kanals, der entlang der Felder verläuft, mehrere Reviere dieses kleinen Vogels festgestellt. «Ein solches Nest zu entdecken, wäre natürlich schön.»

Auf einer weiteren Seite folgt der Favorit des Reporters: das Nest der Schwanzmeise. Ein Bau, dessen Form an einen Rugbyball erinnert, kunstvoll geflochten aus Moos, Flechten und Spinnweben mit einem Schlupfloch in der oberen Hälfte. «Es ist aber meist hervorragend getarnt in Astgabeln – so ein Nest zu finden, braucht Glück», dämpft Vogel die Vorfreude.

Das Rabennest – nur scheinbar lieblos
Der Weg führt über das Feld zu dem Kanal, der gesäumt ist von Sträuchern und Bäumen. Vogel deutet hinauf in eine kahle Birke. «In solchen Bäumen könnte eine Schwanzmeise ihr Nest gebaut haben. Oder ein Buchfink.» Letzterer ist die häufigste Vogelart der Schweiz – da müsste doch ein Nest zu entdecken sein. Gerade jetzt im Winter, wenn keine Blätter mehr die Sicht ins Geäst verdecken.

So einfach sei das nicht, erklärt Vogel. Wie die Schwanzmeise verwende der Buchfink Moose und Flechten, um daraus in einer Astgabel oder gar einfach auf einem breiten Ast ein oben offenes Nest zu bauen. «Weil das Baumaterial meist vom selben Baum stammt, sieht man es kaum.» Er achte jeweils darauf, ob der Baum irgendwelche Knubbel aufweise, unnatürlich wirkende Verdickungen am Stamm oder auf einem Ast. An der Birke findet der Fachmann keine solchen Wülste, also wendet er sich den dürren Schilf- und Mädesüss-Stängeln zu, die gleich nebenan einen dichten Gürtel an dem Bächlein bilden. Hier könnte ein Sumpfrohrsänger-Nest hängen. Falls ja, hat der Vogel ganze Arbeit geleistet und seinen Bau hervorragend vor menschlichen Augen verborgen.

Plötzlich dreht Vogel sich um und zeigt in den Himmel. «Ein Sperber», sagt er. Er folgt dem Vogel, der in hohem Tempo in Richtung einer Baumgruppe bachaufwärts fliegt. Dort präsentiert sich das erste echte Nest dieser Exkursion: Es ist ein rundlicher Asthaufen hoch oben in der Astgabel einer Erle – das Werk einer Rabenkrähe. Das sehe zwar etwas unbeholfen aus, sei in Wirklichkeit aber eine Glanzleistung, sagt Vogel. Zur Übung lasse er Schulklassen manchmal Krähennester bauen, wenn sie die Vogelwarte besuchten. «Sie merken schnell, wie schwierig es ist, ein Nest zu bauen, das nicht auseinanderfällt – und die Krähen machen das ohne Hände, nur mit ihrem Schnabel und mit einem Fuss, mit dem sie ein Ästchen halten.» Zudem sehe das Nest nur von aussen grob aus, innen sei es mit dünnem, weichem Material gepolstert.

Ältere Vögel bauen besser
Allerdings gibt es durchaus Vögel, die dem Nestbau keine grosse Bedeutung zumessen. Der Turmfalke, den Vogel gerade über dem Feld rütteln sieht, legt seine Eier auf den blossen Boden einer Fels- oder Gebäudenische – oder in ein verlassenes Krähennest. Auch Tauben sind keine grossen Baumeister. Vogel deutet hinauf in eine Weide, wo ein paar dürre Stecklein aufeinanderliegen. «Das ist ein Ringeltaubennest. Man kann von unten durchsehen und im Frühling gar erkennen, ob es Eier drin hat oder nicht – derart liederlich ist es gebaut.»

Bei anderen Arten hingegen ist der Aufwand für den Nestbau beträchtlich. Im Schnitt würden Singvögel zehn Tage bis zwei Wochen an ihrem Nest bauen, sagt Vogel. Wie sie dabei vorgehen müssen, haben sie in ihren Genen – ihren Eltern zuerst einmal zusehen können sie ja nicht. «Aber sie werden im Lauf ihres kurzen Lebens immer besser», erzählt Vogel. «Man hat nachgewiesen, dass die Nester von älteren Vögeln stabiler und kunstvoller gebaut sind.»

Aus einem kahlen Strauch hört der Experte nun Feldsperlinge tschilpen. Und aus der Wiese fliegt ein Trupp Wacholderdrosseln auf und bringt sich auf hohen Bäumen in Sicherheit vor den Spaziergängern. Ein Hartriegel hängt über das Bächlein. Ganz aussen, über dem Wasser, liegt ein Grasbüschel auf seinen Ästchen. Nein, nicht einfach ein Grasbüschel, sagt Vogel, der genauer hingeschaut hat. Es ist das Nest einer Grasmücke – ob Garten- oder Mönchsgrasmücke sei unmöglich zu bestimmen. Das Bauwerk wird allerdings den Frühling nicht mehr erleben – es liegt schon ganz schief von Wind und Wetter.

Der Rückweg führt der Wigger entlang, deren Ufer dicht bewachsen ist mit Sträuchern und Büschen. Es dauert nicht lange, da findet Vogel auf Kopfhöhe, unmittelbar am Weg, erneut ein Nest. «Wieder eine Grasmücke, gut erhalten diesmal», sagt er, nimmt es herunter und zeigt die sorgsame Bauweise, aussen mit gröberen Gräsern, innen mit ganz feinen Hälmchen. «Kleine Singvögel benutzen letztjährige Nester eigentlich nie noch einmal – wer sie im Winter entfernt, schadet ihnen nicht.»

Zum Schluss geht es an einem Bauernhof vorbei. Ein halbes Dutzend Mehlschwalbennester hängen unter einem breiten Vordach. Und ganz oben auf einer Spalierbirne thront ein Nest. «Ein Finkennest», sagt Vogel. Vom Buchfink sei es nicht, und für die kleinen Finkenarten wie Distelfink oder Girlitz sei es zu gross. Er tippe deshalb auf einen Grünfink.

Ein Nest aus Drahtschlingen
Wo die Schwanzmeise ihre Nester versteckt hat, bleibt hingegen an diesem Nachmittag das Geheimnis der Erbauerin. Es bleibt nur ein Abstecher nach Sempach: Hier, im Kellergeschoss der Vogelwarte, lagert Vogel mehrere Dutzend Schachteln mit Vogelnestern – darunter auch das skurrilste, das er in seiner Ornithologenkarriere je zu Gesicht bekommen hat. Es stammt von einer Strassen- oder einer Türkentaube und  wurde auf einer Baustelle in Villmergen AG gefunden. Es ist ein scheinbar zufälliger Haufen von Drahtschlingen, die Bauarbeiter für Betonarmierungen benutzten. «Tauben sind nicht wählerisch und nehmen für den Nestbau, was sie gerade finden», sagt Vogel. Ein bisschen Draht reicht ihnen, um darauf ihre zwei Eier zu legen.

Das pure Gegenteil dieses lieblosen Gebildes liegt in einer Schachtel daneben: das Schwanzmeisennest. Es ist ein perfekter, kompakter Bau, wie gewoben aus dem grünen Moos und den grauen Flechten. Im Innern befinden sich zur Polsterung sogar einige Federchen. Einen Makel hat es allerdings: Unter dem Flugloch klafft eine zweite Öffnung. «Wahrscheinlich», sagt Vogel, «wurde das Nest von einem Räuber aufgespürt und geplündert.» Selbst die besten Baumeister machen eben Fehler.

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