Den Waldrapp sieht man schon von Weitem. Wer sich dem Flugplatz Lommis TG nähert, dessen Blick fällt bald einmal auf einen leuchtend orange-weissen Windsack – und den imposanten Vogel mit dem langen, gekrümmten Schnabel und der Punk-Frisur, der auf dem dazugehörigen Pfosten sitzt. Es ist das Weibchen Sonic. Seelenruhig putzt es sich das schwarz-glänzende Gefieder, obwohl der Windsack-Pfosten gleich neben dem kleinen Flugplatz-Beizli steht. Bald darauf fliegt Sonic ein paar Runden und lässt sich dann auf der Graspiste nieder, wo sie nach Nahrung stochert. Von Menschen und Flugzeugen zeigt sie sich gänzlich unbeeindruckt.

Waldrappe wurden in Europa schon vor 300 Jahren ausgerottet. Es überlebte lediglich eine Restpopulation in Marokko. Die Ibisvögel gelten als stark gefährdet. Auch in der Schweiz waren sie einst heimisch. Heute siedelt sie das von der EU unterstützte Projekt «Waldrappteam» in Österreich und Deutschland wieder an. In der Schweiz sind sie seltene Gäste. 

Auch Sonic gehört zum Europäischen LIFE-Wiederansiedlungsprojekt. Sie schlüpfte 2017 und wurde von Hand aufgezogen. Ihr angestammtes Brutgebiet befindet sich bei Überlingen am Bodensee. Die dortige Waldrapp-Kolonie ist noch jung: Sonic gehört zur ersten Generation. Gemeinsam mit ihren Artgenossen wurde sie mit einem Ultraleichtflugzeug über die Alpen ins Winterquartier in der Toskana geführt. Die Vögel würden sonst den Weg nicht kennen (lesen Sie hier mehr dazu). Dennoch kann es vorkommen, dass einzelne Waldrappe sich später verirren. Zu Berühmtheit brachte es vor ein paar Jahren das Weibchen Shorty, das beharrlich die Schweiz als Winterquartier wählte und nach einem besonders strengen Winter im Tierpark Goldau aufgepäppelt werden musste (die «Tierwelt» berichtete).

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Junge Waldrappe folgen dem Ultraleichtflugzeug über die Alpen.
  Bild: Waldrappteam

 

Seit einigen Wochen nun hält sich also Sonic in der Schweiz auf – und fliegt hier scheinbar kreuz und quer umher. Am 23. Juni kam sie vom Winterquartier in der Toskana her ins Land. Vom Bünderland flog sie in die Westschweiz, dann wieder in die Ostschweiz, danach zurück an den Neuenburgersee. Kurzzeitig begab sie sich dann doch ins Brutgebiet nach Überlingen, kehrte aber bald wieder in die Schweiz zurück, wo es ihr zu gefallen scheint. Zur Zeit hält sie sich wieder in der Ostschweiz auf. Ersichtlich wird ihre Route dank der App «Animal Tracker» von der Max-Planck-Gesellschaft, in der die Bewegungen von GPS-besenderten Tieren nachverfolgt werden können.

Sonic erschliesst neue Wege
Dass junge Waldrappe auf solche Weise «vagabundieren» sei nichts Ungewöhnliches, erklärt der österreichische Biologe Johannes Fritz, Projektmanager des Waldrappteams. Sonic sei noch nicht geschlechtsreif und brüte noch nicht, weshalb sie sich nicht im Brutgebiet aufhalten müsse. «Trotzdem ist Sonic ein extrem spannender Vogel. Sie ist der erste Vogel aus Überlingen, der über die Alpen zurück flog.» 

Dafür wählte sie die vorgesehene Route. Das war nicht selbstverständlich. In der Toskana überwintern Waldrappe aus den drei Brutgebieten in Salzburg (Österreich), Bayern und Überlingen gemeinsam. In Salzburg und Bayern brüten Waldrappe seit einigen Jahren schon erfolgreich. «Wir haben aktuell 37 Jungvögel. Ein exzellentes Jahr!», freut sich Fritz. Die Zugrouten dieser beiden Kolonien sind etabliert. Sie fliegen weiter östlich über die Alpen. «Es hätte sein können, dass Sonic sich ihnen anschliesst und nach Salzburg oder Bayern fliegt», sagt Fritz. Das tat sie aber nicht und erschloss somit für die europäischen Waldrappe einen neuen Migrationskorridor. 

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Sonics Weg durch die Schweiz. Zur Zeit gefällt es ihr im Thurgau. Auf der Graspiste vom Flugplatz Lommis findet sie wohl gute Nahrung.
  Bild: Screenshot Animal Tracker

 

In Lommis hat Sonic es sich inzwischen wieder auf dem Windsack-Pfosten bequem gemacht. Auch die Gäste in der Beiz sind von der Waldrapp-Dame fasziniert. Als Kolonievogel, der alleine unterwegs ist, suche sie den Kontakt zu anderen Lebewesen, sagt Fritz. «Sie schliesst sich auch gerne anderen schwarzen Vögeln wie Rabenkrähen an.» Mit Menschen habe Sonic noch keine negativen Erfahrungen gemacht, deshalb lasse sie sie so nah an sich ran. Dies sollte sich aber ändern, sobald sie sich wieder unter Artgenossen befinde. 

Im September nämlich sollte Sonic zurück ins Winterquartier ziehen. Anders als dereinst Shorty, werde sie das mit Sicherheit tun, da sie die Lage des Wintergebietes kennt, glaubt Fritz. Im nächsten Frühling sollte sie dann ohne grosse Verzögerung mit weiteren Artgenossen ins Brutgebiet fliegen und dort ihre ersten Jungen grossziehen. Diese werden kein Ultraleichtflugzeug mehr brauchen. Sonic kann ihnen den Weg über die Alpen selber zeigen.