Es ist der 17. Juli 2015. Eine Familie geniesst die Sommerferien in ihrer Ferienhütte auf der idyllischen Bargis-Hochebene bei Flims GR. Die Buben spielen Ball auf den frisch gemähten Wiesen. Der Vater schaut ihnen zu, als er auf einmal etwas Graues im Gras sieht. Er nimmt den Feldstecher – und erkennt einen Wolf, der ungefähr 160 Meter von den Buben entfernt in der Sonne liegt. Der Mann packt seinen Fotoapparat, geht zu seinen Kindern und gemeinsam nähern sie sich dem Wolf, um ihn zu fotografieren. Als sie noch 80 Meter entfernt sind, reagiert das Tier und flieht in ein Gebüsch.

Der ältere Sohn holt einen Jäger, der in der Nachbarhütte Ferien macht und sofort herbeieilt. Der Familienvater folgt dem Wolf alleine ins Gebüsch. Plötzlich hört er den Wolf davonschleichen, bloss ungefähr zwölf Meter entfernt. Es gelingt ihm sogar, das Tier einige Sekunden lang zu filmen, bevor es sich davonmacht.

Es sind Szenen wie diese, welche die Kantone Graubünden und St. Gallen im Dezember 2015 bewogen, beim Bund eine Bewilligung zu beantragen, um das Wolfsrudel am Calanda um zwei Tiere zu dezimieren. Die Calanda-Wölfe, so die zuständigen Ämter der beiden Kantone, hätten sich seit 2012 sukzessive an den Menschen gewöhnt, es sei zu immer mehr auffälligen, unerwünschten oder gar problematischen Vorfällen gekommen. Insgesamt listeten sie fürs Jahr 2015 rund drei Dutzend Vorkommnisse auf, von denen sie 17 als unerwünscht und fünf als problematisch (mit einem Gefährdungspotenzial für den Menschen) taxierten, darunter jenes in Bargis.

Es stellt sich also die Frage: Wie gefährlich ist der Wolf für den Menschen? Müssen nun nicht mehr nur Nutztierhalter um ihre Schafe oder Ziegen fürchten, sondern auch Eltern um ihre Kinder? Die Vorfälle veranlassten die Raubtierfachstelle Kora, eine Studie durchzuführen, um herauszufinden, ob Annährungen des Wolfes an Siedlungen und an den Menschen zum normalen Verhalten des Tieres gehören oder nicht. Und dazu, wie gefährlich der Wolf für den Menschen ist.

Verliert der Wolf seine Scheu?
Fazit der letzten Dezember publizierten Untersuchung, für die Spezialisten aus 28 europäischen Ländern befragt wurden, in denen Wolfsrudel leben: Der Wolf ist kaum eine Gefahr für den Menschen. Zwar meldeten zwölf Länder Fälle, in denen der Wolf sich Menschen gegenüber aggressiv verhalten hatte. Doch praktisch alle Fälle waren entweder darauf zurückzuführen, dass ein Wolf Tollwut hatte oder dass er sich selbst verteidigte, weil Menschen ihn angegriffen hatten. Bloss in Spanien gab es einige unprovozierte Angriffe auf Menschen – den letzten im Jahr 1975. «Es gibt viele Tiere, die für den Menschen um ein Vielfaches gefährlicher sind als der Wolf», sagt Kora-Mitarbeiterin und Studienmitautorin Manuela von Arx.

Insbesondere fand die Studie keinen einzigen Hinweis darauf, dass Wölfe, die wiederholt nahe an Gebäuden oder an Menschen beobachtet worden waren, später aggressiv geworden wären. «Grundsätzlich zeigen ausgewachsene Wölfe zwar eine Scheu vor Menschen», sagt von Arx’ Kollege Ralph Manz. Dass sich immer mal wieder ein Tier in die Nähe von Siedlungen wage, sei aber völlig normal. In schneereichen Wintern etwa wurden Calanda-Wölfe öfter in oder nahe von Dörfern wie Vättis SG, Tamins GR oder Felsberg GR beobachtet. Das seien Ortschaften, in denen in den kalten Monaten Hirsche, Rehe oder Gämsen zur Futtersuche ins Tal hinunterkämen, sagt Manz. «Der Wolf folgt dann seiner Beute.» Auch Jungtiere könnten vermehrt in die Nähe des Menschen kommen, ergänzt Manuela von Arx. «Eine Studie in Finnland zeigt, dass Jungtiere generell neugieriger und weniger scheu sind als ausgewachsene Wölfe.»

Braucht es eine Nullrisikopolitik?
Die beiden Kora-Experten plädieren deshalb für einen entspannten Umgang mit dem Wolf. Es habe in Europa in letzter Zeit einen einzigen Wolf gegeben, der wirklich verhaltensauffällig geworden sei, sagt Manz. Ein Tier aus einem Rudel beim Truppenübungsplatz Munster in Niedersachsen verlor die Scheu vor dem Menschen und folgte zum Beispiel Spaziergängern mit Kinderwagen – sodass er getötet werden musste. «Es gibt aber Nachweise, dass Soldaten den Wolf mit Futter angelockt haben», sagt Manz.

Eine etwas andere Sicht auf die Dinge hat Hannes Jenny vom Amt für Jagd und Fischerei beim Kanton Graubünden. Zwar kennt er die Daten und die Kora-Studie und sagt: «Statistisch gesehen ist der Wolf keine Gefahr für den Menschen.» Doch die Zunahme der Schweizer Wolfspopulation innert weniger Jahre auf geschätzte 40 Tiere und die dichte Besiedelung des Landes führe zu Situationen, wie man sie nicht kenne. «In unserer Kulturlandschaft ist ein Experiment am Laufen, zu dem wir kaum Vergleichsmöglichkeiten haben.»

Für Jenny ist klar, dass es eine Nullrisikopolitik braucht. Sein Amt trage am Schluss auch Verantwortung. «Wir wollen keine Wölfe in Dörfern und wir wollen keine Wölfe, die dreist Zäune überwinden und in Ställe eindringen.» In solchen Fällen müsse man handeln, zum Wohl des Wolfes insgesamt in der Schweiz. Denn nur wenn der Wolf sich unauffällig verhalte, werde ihn die Bevölkerung langfristig dulden, ist Jenny überzeugt.

Jenny räumt ein, dass es 2016 rund um den Calanda zu viel weniger auffälligem, unerwünschtem und problematischem Wolfsverhalten gekommen ist als 2015. Einerseits sei dies sicher auf den milden Winter zurückzuführen, der die Beutetiere nicht derart weit ins Tal hinunterzwang. Zum anderen schlug zwar die geplante bewilligte Dezimierung des Calanda-Rudels fehl, weil es der Wildhut nicht gelang, Jungwölfe zu schiessen. Doch im März 2016 wurde ein Jungtier gefunden, das wahrscheinlich Wochen zuvor gewildert worden war. Er vermute, dass dieser Wildereifall dazu beigetragen habe, die Scheu des Rudels vor dem Menschen zu vergrössern, sagt Jenny.

Eine Frage der Sichtweise
Die grosse Frage aber bleibt, welche Wolfsverhaltensweisen genau als problematisch gelten müssten. Beim Vorfall auf der Bargis-Hochebene etwa herrscht bei Weitem keine Einigkeit: Dass die Bündner Behörden ihn als potenziell gefährlich einstufen, bezeichnet die Gruppe Wolf Schweiz als «starke Übertreibung». Eine Distanz von 160 Metern zum Menschen sei völlig unkritisch, schreibt die Organisation auf ihrer Website. Zudem habe das Tier rasch die Flucht ergriffen, als sich die Menschen näherten, eine Annäherung des Wolfes an die Kinder habe es laut den Zeugen nicht gegeben.

Manuela von Arx von der Kora glaubt, dass die Angst vor dem Wolf auch kulturell bedingt ist. «In Regionen, in denen der Wolf nie ausgerottet war, haben die Menschen keine Angst vor ihm», sagt sie. Vielleicht gibt es ja zwei gegensätzliche Entwicklungen, die das Zusammenleben mit dem Raubtier in der Schweiz langfristig sichern: Der Wolf wird dem Menschen gegenüber scheuer, der Mensch hingegen baut seine Ängste vor dem Wolf ab.