Küken sind zunächst alleine und eingeschlossen in einer Eierschale. Nach zwanzig Tagen wird der Platz langsam eng, die Luft und die Nahrung knapp. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen um sich aus dem Ei zu kämpfen. Mit dem sogenannten Ei-Zahn, einer hornigen Kappe an der Spitze des Schnabels, bricht das Tierchen erst durch die Luftzelle am breiten Ende des Eis, danach durch die Eierschale. All dies muss das Küken ganz alleine schaffen. Hat es sich dann aus dem Ei gekämpft, beginnt es kurz nach der ersten Ruhephase nach Wasser zu suchen. Nur wenig später pickt es nach der ersten Nahrung. Das klingt nach einer hohen Selbstständigkeit der Küken – entspricht aber nur bedingt der Wahrheit. Denn nach dem Schlüpfen ist es auf Hilfe angewiesen. 

In Gefangenschaft ist es für ein Küken kein Problem, ohne Glucke aufzuwachsen. Alles Lebensnotwendige wird vom Halter fein säuberlich bereitgestellt und installiert: die Wärmelampe, die für die richtige Temperatur in den ersten Lebenstagen sorgt, sauberes Wasser und gesundes Futter. In der freien Natur hingegen würden die Küken ohne Muttertier kaum überleben. Denn ihnen fehlt die notwendige Lebenserfahrung. Sie wissen zwar, wie man etwas aufpickt, aber nicht, was essbar ist. Sie können zwar herumlaufen, wissen aber nicht, wo sie am besten vor Witterung und Fressfeinden geschützt sind. Ja, sie wissen nicht mal, um welche Tiere sie besser einen grossen Bogen machen sollten. Die Glucke schützt ihre Küken mit all ihrer Lebenserfahrung und dient dabei als Vorbild.

Ob in Gefangenschaft oder in freier Natur, die Fixierung auf ein Objekt erfolgt in den ersten Lebensstunden (es muss nicht unmittelbar nach dem Schlupf sein). Die Küken erfassen grobe und allgemeine Merkmale des Gegenstands oder Lebewesens. Belohnungen, Berührungen oder akustische Signale sind nicht in erster Linie entscheidend für die Prägung. Ist das Vorbild gefunden, konzentrieren sich die Küken voll auf dieses und sind gegenüber anderen Reizen weniger empfänglich.

Obwohl sich Küken auf fast alles, was sich bewegt, prägen lassen, haben sie gewisse Vorlieben. So sind die Erfolgschancen bei Lebewesen, respektive sich selbst bewegenden Objekten viel grösser als bei künstlich bewegten Gegenständen. Das mag daran liegen, dass sich die Küken eher von etwas leiten lassen, was eine biologisch vorhersehbare Bewegung macht – wie ein Experiment mit Lichtpunktanimation zeigt. Bei dieser Versuchsreihe bringt man reflektierende Kugeln an den Gelenken einer Henne an und zeichnet die Kugelbahnen auf, während sich der Körper bewegt. Die Bewegungen dieser Punkte auf einem Computerbildschirm nennt man Lichtpunkt-Animationssequenz. 

Genügend Schlaf ist entscheidend
Erstaunlicherweise wurden die Küken von der Animation einer laufenden Henne gleichermassen angezogen wie von einer lebenden laufenden Henne. Dabei waren sie nicht an den Punkten an sich interessiert, sondern nur an den Bewegungsabläufen. Sie zeigten auch keine Regung, wenn sich die Punkte ohne erkennbares Bewegungsmuster bewegten. Ebenso bevorzugen Küken natürliche Objekte mit Kopf und Augen. Sie reagieren zudem häufiger auf Farben als auf Hell-Dunkel-Kontraste. Rot und Blau stehen hoch im Kurs, Grün und Gelb wird mehrheitlich ignoriert. Der visuelle Reiz ist also entscheidend für die Prägung.

Anders sieht es mit akustischen Reizen aus: Zwar erkennen Küken schnell den charakteristischen Ruf der Glucke, es erfolgt jedoch keine Fixierung darauf. Die rhythmischen Laute beschleunigen lediglich den Prägevorgang und verstärken die Fähigkeit des Lernens und der Erinnerung. Vermutlich ist das der Grund, weshalb Glucken in der Nähe ihrer Jungen oft rhythmische Rufe von sich geben. Während der Prägungsphase ist ausserdem genügend Schlaf sehr wichtig. Dann festigen die Küken die Beobachtungen und Erinnerungen, die sie tagsüber mit ihren Vorbildern gemacht haben. 

Brütige Hennen sind die besten Vorbilder
Auch wenn sich Hühner auf unterschiedliche Objekte fixieren lassen, ist es in jedem Fall am besten, wenn ihr Vorbild eine lebendige Henne ist. Von niemandem sonst lernen sie besser die sozialen und verhaltenstypischen Eigenschaften eines Huhns; stabile Beziehungen aufzubauen, sich in einer in der Tierwelt unvergleichlichen hierarchischen Gruppierung einzufügen und angemessen auf Sexualpartner zu reagieren. 

Dabei darf es durchaus auch eine Henne einer anderen Rasse sein. Vorausgesetzt, diese Henne befindet sich in der Brütigkeit, ist also bereit, Junge aufzuziehen. Man erkennt eine brütige Henne an ihrem veränderten Verhalten. Sie zeigt sich in dieser Phase sehr scheu und ist extrem fixiert auf einen Nistplatz. Dort verbringt sie auch die meiste Zeit des Tages. Zudem gackert sie aussergewöhnlich oft, wenn sich jemand nähert, und pickt aggressiv, will man sie hochheben. Einige Hennen entwickeln einen sogenannten Brutfleck. Sie verlieren Federn am Bauch wodurch sich die Körperwärme besser an die Eier abgeben lässt.

Was passiert nun aber, wenn die Küken vom Objekt oder Lebewesen, auf das sie geprägt sind, getrennt werden? In dem Fall kann sich die Vorliebe schnell abschwächen und auf ein anderes Objekt übergehen. Das erste Vorbild ist also nicht unersetzlich, aber der erste Prägereiz scheint ihnen im Gedächtnis zu bleiben, sodass sie in der Folge stets ähnliche Objekte wählen.