Der kleine Rammler sitzt ruhig da, die Augen halb geschlossen, scheinbar am Dösen. Doch er macht kein Mittagsschläfchen, er lässt den Abszess an seinem Kiefer behandeln. Der Behandler hat die Haut gekonnt angeritzt, schmerzlindernde Substanzen eingespritzt und ist nun daran den Abszess zu entleeren. Dies dauert mindestens eine halbe Stunde, denn der Behandler ist ein Blutegel. 

«Jetzt hat er das System des Wirtes überwunden und geht in freies Saugen über», erklärt Tierheilpraktikerin Karin Gamma die beginnenden kräftigen Bewegungen des Blutegels. Der ganze Körper des Egels zieht sich rhythmisch zusammen, während er sich mit Blut und Eiter vollsaugt. Was für empfindliche Gemüter etwas gewöhnungsbedürftig tönt, ist ein geniale Einrichtung der Natur. Blutegel sind keineswegs blutrünstige Parasiten, sie werden eher zu den Symbionten gezählt, da sie zwar Blut von einem Wirtstier saugen, diesem aber mit ihrem Speichel eine Vielzahl heilkräftiger Substanzen zurückgeben und ihm so zu Gesundheit und Wohlbefinden verhelfen. 

Sensible Heiler
Blutegel heissen mit wissenschaftlichem Namen Hirudo medicinalis, sie tragen damit ihre Berufung bereits im Namen. Dies zeigt sich auch in den englischen Bezeichnungen «leech» (Blutegel) und «leecher» (Heiler).
Der Einsatz der Egel in der Medizin geht mindestens bis ins alte Ägypten zurück, wo sie im Papyrus Ebers (1550 v. Chr.) erwähnt werden, dürfte aber noch weit älter sein. Biologisch gehört der Blutegel zu den Ringelwürmern und ist damit ein Verwandter des Regenwurms. Er lebt im Uferbereich pflanzen-reicher Tümpel, wo er aber durch übermässiges Sammeln im 19. Jahrhundert und durch Schadstoffe in neuerer Zeit selten geworden ist. Er ist geschützt und untersteht dem Cites-Abkommen.
Die Tiere ernähren sich ausschliesslich von Blut, meist von Fischen und Amphibien, aber auch von Säugetieren, die zum Gewässer kommen. Man hat beobachtet, dass Wild- und Weidetiere gezielt Gewässer mit Blutegeln aufsuchen, wenn sie lahmen. Blutegel schwimmen schlängelnd im Wasser, wobei sie recht schnell sind; an Land bewegen sie sich spinnerraupenartig mithilfe der beiden Saugnäpfe vorwärts.
Trotz ihres blutrünstigen Verhaltens sind die Tiere sehr sensibel. Sie beissen nicht in parfümierte Haut, mögen keine Raucher und sind bei Gewitter träge. Ist der Therapeut nervös, überträgt sich das auf den Egel, und er verweigert die Zusammenarbeit. Blutegel können bis zu 20 Jahre alt werden.

Gerade Abszesse, die bei Kaninchen recht häufig auftreten, gehören zu den Kernkompetenzen der Egel. Die Saugtätigkeit vermindert den Druck im Abszess, doch die in die Wunde abgegebenen Wirkstoffe sind wesentlich. Von den mehr als 100 aktiven Substanzen des Blutegelspeichels sind noch längst nicht alle untersucht. Nebst den schmerzlindernden gibt es Komponenten, welche die Blutgerinnung verhindern, andere wirken entzündungshemmend oder regen die Durchblutung und den Lymphabfluss an, weitere sind antibakteriell, ja sogar stimmungsaufhellende Wirkstoffe wurden entdeckt. 

Entspannt bei der Behandlung
In der ersten Sitzung liess Karin Gamma zwei Egel gleichzeitig am Abszess anbeissen. Die kleinen Sauger haben an Kopf- und Schwanzende je einen Saugnapf. Mit dem hinteren Saugnapf halten sie sich am Wirt fest und suchen mithilfe ihrer Sinnesrezeptoren am Kopfteil eine geeignete Stelle für die Blutmahlzeit. Bevorzugt werden warme oder haarlose Stellen (Entzündungsherde), auch Eiter lockt sie an. Passt eine Stelle, saugt sich der Egel mit dem vorderen Saugnapf fest und beginnt die Haut des Patienten mit 200 feinen Zähnchen aufzuritzen. Das Kaninchen wehrte sich nicht dagegen, es schien dabei kaum Schmerz zu empfinden. Menschliche Patienten berichten von einem leichten Brennen, das aber rasch vergehe. Ein Egel saugt je nach Grösse 20 bis 50 Milliliter Blut, noch einmal so viel blutet durch die herabgesetzte Gerinnung nach. 

Am folgenden Tag wurde ein frischer Egel am Abszess angesetzt und ein paar Tage später noch ein vierter Egel. Die Behandlungen liess das Kaninchen völlig entspannt über sich ergehen, es zeigte weder Unbehagen noch Ungeduld über die Länge der Sitzung. Die Egel sollen sich in Ruhe vollsaugen können; sobald sie satt sind, lassen sie sich fallen. Versucht man sie vorher gewaltsam abzulösen, könnte Mageninhalt in die Wunde abgegeben werden. Nach der Behandlung kam der Rammler zurück in den Stall, wo er sich intensiv putzte. Das Nachbluten hielt sich allerdings stets in Grenzen.  

Stimmungshoch dank Serotonin? 
Nach einer Blutmahlzeit verdauen Egel erst einmal. Symbiotische Darmbakterien konservieren das aufgenommene Blut, sodass ein Egel davon bis zu einem Jahr zehren kann. Bis zur nächsten Mahlzeit könnten also mehrere Monate vergehen. Könnten, denn das Gesetz verbietet, einen medizinischen Blutegel mehr als einmal therapeutisch einzusetzen. So werden die meisten der kleinen Helfer nach ihrem Einsatz in die Tiefkühltruhe verfrachtet, wo sie in eine Kältestarre verfallen und dann sterben. Aussetzen in der Natur kommt nicht infrage, denn die Zuchtegel gehören nicht zur gleichen Art wie der einheimische, bedrohte und deshalb geschützte Blutegel. 

Nach den drei Behandlungen war der Abszess des Rammlers zwar kleiner geworden, aber noch nicht verschwunden. Doch das Verhalten des Kaninchens hatte sich verändert: Es schien geradezu übermütig, bewegte sich auffallend viel, bettelte aufgeregt zur Fütterungszeit und stürzte sich heisshungrig aufs Fressen. Ob das mit dem stimmungsaufhellenden Serotonin im Blutegelspeichel zusammenhing? Fünf Wochen nach dem letzten Egeleinsatz war der Abszess ganz verschwunden, dank des Cocktails an Wirkstoffen, der mit dem Speichel des Egels in den Wirtskörper gelangte und die Selbstheilung des Kaninchens anstiess.

In ihrer Tierheilpraxis setzt Karin Gamma Blutegel vorwiegend bei Pferden mit Hufrehe (Entzündung der Klauenlederhaut), Sehnenproblemen oder Hämatomen ein; zudem bei Arthrose-geplagten Hunden. Doch auch für Kaninchen mit Abszessen ist die stressarme Behandlung mit den kleinen Beissern empfehlenswert. 

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