Moses verhält sich merkwürdig. Der menschenscheue Kater ist einer der Problemfälle in Véronique Hufschmids Tierheim in Sisseln AG. «Zuerst bearbeitete er sämtliche Lammfelldecken mit seinen Pfoten wie ein Kitten beim Milchtritt. Dann nahm er die Decke in den Mund, um zu nuckeln, und schliesslich riss er Stücke raus, um sie zu fressen.» Die Tierpsychologin beschreibt einen Kater mit Pica-Syndrom.

Pica pica ist der wissenschaftliche Name der Elster, eines besonders opportunistischen Vogels, der alles frisst, was herumliegt und ihm über den Weg läuft. Von der Elster hat auch die Pica-Krankheit ihren Namen. Sie existiert sowohl bei Menschen als auch bei Tieren und wer von ihr betroffen ist, isst die kuriosesten Dinge. Unter Katzen, so lassen mehrere Studien vermuten, ist sie verbreitet und betrifft vor allem orientalische Rassekatzen. Das sieht Véronique Hufschmid etwas differenzierter. Ihrer Erfahrung nach könne es jede Katze treffen. Allerdings: «Rassekatzen sind meistens keine Freigänger und deshalb vielleicht eher anfällig für das Pica-Syndrom.»

Oft heisst es, die Krankheit würde innerhalb des ersten Lebensjahres erscheinen und nach einigen Jahren wieder verschwinden. Wissenschaftlich belegt ist das jedoch nicht. Schaut man sich um, hört man oft von Tieren, die erst im Alter auf den Geschmack kommen. So wie etwa der elfjährige Kater von Maey. Sie berichtet in einem Katzenforum, dass er plötzlich extrem viel Plastik fresse. Erst sei es die Mülltüte gewesen, danach ein Dekoband und schliesslich das Paketband.

Plastik schmeckt nach Büsi
Da der Körper der Katze Substanzen wie Plastik, Wolle, Holz oder Gummi nur schlecht oder gar nicht verdauen kann, kann diese Essstörung schwerwiegende Folgen haben. Die Objekte der Begierde können im schlimmsten Fall den Verdauungstrakt verstopfen und einen tödlichen Magen- oder Darmverschluss hervorrufen.

Warum sie dennoch im Maul landen, ist bislang nicht eindeutig geklärt. Ebenso wenig, warum sie teilweise gegessen, teilweise aber nur auf ihnen herumgekaut respektive gesaugt wird. Hufschmid geht davon aus, dass eine zu frühe Trennung vom Muttertier eine Ursache sein kann. Nach rund sieben Wochen fangen Katzenmütter an, ihren Jungen das Stillen nach und nach zu verweigern. Wird ein Jungtier aber schon vorher entrissen und kann es somit nicht komplett abstillen, bleibt der Saugreflex im späteren Leben erhalten.

Laut Hufschmid kann das Pica-Syndrom auch eine Ersatzhandlung sein, wenn die Katzen zu wenig Aufmerksamkeit kriegen und sich langweilen. Das könnte nach einer Weile zur Sucht führen. Bei Plastik-Junkies hält sie die Weichmacher für die Ursache: «Der im Plastik enthaltene Weichmacher hat einen ähnlichen Geschmack wie die Pheromone der Katze und kann deshalb zu einem Suchtverhalten führen.» Um da wieder rauszukommen, braucht es laut der Tierpsychologin konsequente Beschäftigungs- und Verhaltenstherapien sowie möglicherweise homöopathische Unterstützung. Was sich ebenfalls bewährt habe, sei eine Ernährungsumstellung. Denn Katzen mit permanentem Zugang zu Essbarem, wie etwa Katzengras, und einem Futter, das auch ihr Kaubedürfnis stillt, beispielsweise knochiges Fleisch, sind tendenziell weniger betroffen.

Wenn etwas fehlt
Der schweizerisch-amerikanische Biologe Dennis C. Turner sieht eine «überstarke Bindung an Menschen» als möglichen Auslöser des Pica-Syndroms. Dafür spreche die Tatsache, dass einige der betroffenen Tiere vor allem an Kleidung nuckeln, die nach Frauchen oder Herrchen riechen. Einige gehen sogar noch weiter und nehmen sich nur die Stellen vor, die besonders stark riechen, wie etwa der Achselbereich des Pullovers.

Ein Blick in die Menschenwelt weist auf einen Nährstoffmangel als Beweggrund hin. Es gibt tatsächlich Pica-Kranke, die Gips essen, um einen Kalziummangel auszugleichen. Diese Form des Syndroms gilt allerdings nicht als krankhaft. Schliesslich nehmen gewisse Naturvölker Erde und Steine zu sich, um Mineralien und Spurenelemente aufzunehmen.

Definitiv pathologisch sind andere Beweggründe: Zum einen könnten neurologische Störungen vorliegen, da das Hunger- und Appetitzentrum im Hypothalamus liegt, dem Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems. Andere Quellen gehen von gastrointestinalen Störungen aus, da der Magen-Darm-Trakt eine entscheidende Rolle beim Hungergefühl spielt. Wieder andere sehen Pica als Symptom von Erkrankungen wie Leber- und Nierenschäden oder Blutarmut.

Die Liste der Mutmassungen ist lang und als wäre das nicht komplex genug, ist das Pica-Syndrom oft nicht das einzige Problem. So wie etwa im Fall von Véronique Hufschmids Tierheimkater Moses, der seine Felldecken zerriss und frass. Die Tierpsychologin nimmt an, dass seine Vergangenheit daran schuld ist. Er sei schlecht behandelt worden und habe lange Zeit Hunger gelitten, sodass seine Angst gross sei, nichts zu fressen zu bekommen. Daher tippt sie auf das Pica-Syndrom in Kombination mit einem pathologischen Beuteverhalten. «Mit Mäusen beschäftigen sich die Büsi ja auch erst eine Weile, bevor sie ihnen den Garaus machen.»

Eine andere mögliche, generelle Erklärung für Verhaltensweisen dieser Art kommt vom Katzenflüsterer Dennis C. Turner. Er meint, dass der Milchtritt und das Nuckeln die Katzen erregen würden und das Zerreissen und Fressen helfe ihnen dabei wahrscheinlich beim Abreagieren.

Woher die Pica-Krankheit auch immer rührt, letztlich kommt es auf die richtige Behandlung an. Menschen bedienen sich dafür bestimmter Medikamente, Selbstkontrolltechniken oder Verhaltenstherapien. Bei Katzen funktioniert das schlecht. Laut Biologe Turner ist Pica sehr schwierig zu beheben: «Es kommt auf die Ursache an, und die ist oft kaum zu erkennen.» Gelte Langeweile als Motiv, müsse man sich eben vermehrt mit dem Tier beschäftigen. Einen zweiten Artgenossen anzuschaffen, sei dagegen eher kontraproduktiv, sagt Turner, da betroffene Katzen oft schlecht sozialisiert seien.

Ordnung halten
Was man auf jeden Fall tun kann und sollte, ist aufräumen. Weg mit allen Haargummis, Bändern oder Klamotten. Alles, woran die Katze gerne knabbert, gehört aus ihrem Sichtfeld verbannt. Und wer weiss, vielleicht löst sich so das Problem von allein, ganz nach dem Motto «Aus den Augen, aus dem Sinn». So hat auch Véronique Hufschmid das Problem mit Moses gelöst. Sie hat alle fellähnlichen Decken durch andere ersetzt und konnte dem Zwang ihres Schützlings so Einhalt gebieten.