Es ist noch etwas zu früh, um viel zu sehen. Und zu spät. Zu früh im Jahr, zu spät im Tag. «Am aktivsten ist der Feldhase am frühen Morgen und in der Dämmerung» sagt Tim Schoch. Er ist Biologe und kümmert sich bei Pro Natura darum, dass es dem Hasen so gut wie möglich geht.

Ein kühler Wind pfeift Schoch um den langen Haarschopf. Auf seiner Wollmütze steht «Ase guet». Wir sind im Thurgau, auf dem Ottenberg, der den Blick nach Weinfelden freigibt. Der Biologe steht am Rand eines Tümpels, der von vertrockneten und plattgedrückten Schilfhalmen umgeben ist. Zu seiner Linken stehen Obstbäume und ein kleiner Weinberg. In seinem Rücken ein Bauernhof mit Pferdekoppel, dahinter ein Wäldchen. 

Was Schoch hier zeigen will, steht allerdings direkt hinter ihm und könnte beinahe übersehen werden: Eine frisch gepflanzte Heckenreihe, kniehoch, blattlos. «Das sieht noch nicht nach viel aus», gibt er zu. Zu früh im Jahr eben. «Aber sobald das alles mal blüht, ist hier recht viel los.» Die Heckenreihe – und eine ganze Palette anderer Aufwertungsmassnahmen rund um den Bauernhof hier – soll dereinst dem Feldhasen als Versteck, als Futterplatz und zur Vernetzung der Landschaft dienen. Und damit auch gleich einer ganzen Reihe anderer Tiere wie Mauswiesel, Hermelin, Feldlerche oder Baumpieper. Denn das Pro-Natura-Projekt, an dem Schoch arbeitet, heisst «Aktion Hase & Co.». 

Dem Feldhasen geht es nicht nur im Thurgau schlecht, sondern im ganzen Mittelland. Schuld daran ist laut Schoch in erster Linie die intensive Landwirtschaft. Wer an seinen Geschichtsunterricht zurückdenkt, erinnert sich noch an das Konzept der Dreifelderwirtschaft. Im Turnus lag jedes Jahr eines von drei Feldern brach, damit es neue Nährstoffe für das nächste Jahr sammeln konnte. 

Solche Brachflächen waren ein Feldhasen-Paradies. Nur gibt es sie heute kaum mehr. Dünger ersetzte das magere Jahr. Aus einem kleinteiligen Ackermosaik wurden grosse, gleichförmige Felder. Die sind zwar noch immer attraktiv, zu knabbern gibt es dort schliesslich genug. Aber sie bieten kaum Verstecke für Hasen – und von Zeit zu Zeit kommt der Bauer und mäht die Langohren im schlimmsten Fall tot.

«Dieses Jahr war es früh warm», erzählt Tim Schoch, während er in sein Auto steigt und die sanft geschwungene Flanke des Ottenbergs hinunterfährt. Die erste Paarungszeit der Hasen in der Region war also vermutlich schon im Februar. «Jetzt sieht man schon bald die ersten Jungtiere.» Und genau die sind der Knackpunkt, der über Anstieg oder Schwund der Population entscheidet.

Video: Feldhasen-Doku

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Keine Chance gegen Räuber

Gut einen Monat nach der Paarung setzt die Häsin schon ihren Nachwuchs, ein bis fünf Hasenbabys, in die Sasse, in eine flache Mulde, für die der Begriff «Nest» masslos übertrieben wäre. Anders als etwa Kaninchen graben sich Feldhasen nämlich keine Bauten, sie sind auf eine natürliche Deckung angewiesen. Da sind Hecken oder hohes Gras willkommen, aber auch Ackerrinnen.
Junge Kaninchen sind Nestflüchter und kehren nur einmal im Tag kurz zum Säugen zur Mutter zurück. Nach einem halben Jahr sind sie ausgewachsen und geschlechtsreif. Bis dahin sind sie Gefahren allerdings hilflos ausgesetzt. Füchse, Marder, aber auch Greifvögel haben mit ihnen leichtes Spiel, wenn sie die Jungtiere einmal entdecken. Denn statt zu fliehen wie ausgewachsene Tiere, ducken sich die jungen Hasen auf den Boden und hoffen, nicht gesehen zu werden. 

«Viele Räuber reagieren auf Bewegungen», erklärt der Biologe Tim Schoch. Da ist die Chance für ein kleines Tier, das unbeweglich mit der Umgebung verschmilzt, gross, gar nicht erst entdeckt zu werden.» Die Strategie mag mit etwas Glück gegen Fuchs und Bussard funktionieren – gegen den Traktor ist sie nutzlos, auch wenn natürlich kein Bauer mit Absicht junge Hasen totfährt.
Damit es gar nicht erst so weit kommt, hilft die Aktion «Hase & Co.» Landwirten, Massnahmen für den Feldhasen zu ergreifen. Wie etwa hier, in einem Feld direkt neben der Autobahn, die Zürich mit dem Bodensee verbindet. Schoch steigt aus dem Auto und folgt dem Feldweg bis zu einem mattbraunen Streifen, der sich vom saftigen Grün des frisch keimenden Feldes abhebt «Hier ist der Landwirt auf uns zugekommen, weil er den Hasen auf seinem Land helfen wollte.» 

Was derzeit noch alles andere als bunt ist, nennt sich Buntbrache und wird seinem Namen spätestens im Frühsommer gerecht, verspricht Schoch. Schon jetzt zeigen sich Löwenzahn und Buchweizen zwischen den dürren Stängeln. Dieses Hasenparadies ersetzt das Brachland aus der Drei-Felder-Wirtschaft von früher. Das Problem dabei: Darauf wächst nichts, was dem Bauern Profit bringt.

Videobeitrag: Auch in Deutschland fühlen sich Feldhasen wohl

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Die Zahlen sinken noch immer

Damit dem Feldhasen und anderen Ackerbewohnern trotzdem geholfen werden kann, gibt es Direktzahlungen für Hecken, Blühstreifen oder Buntbrachen. Für Letztere winkt dem Bauern je nach Erntejahr zuweilen ähnlich viel Geld wie er mit einem Weizenfeld erwirtschaften könnte – und sie geben weniger Arbeit. So fällt es Schoch und den anderen Pro-Natura-Sektionen im ganzen Mittelland, die ebenfalls ein Projekt von «Aktion Hase & Co.» am Laufen haben, nicht ganz so schwer, willige Landwirte zu finden, die mithelfen, den Lebensraum des Feldhasen aufzuwerten. Es gebe zwar durchaus Landwirte, die nicht einsähen, weshalb sie wertvolles Ackerland zu unproduktiver Fläche umwandeln sollten. «Aber wir versuchen, an Orten Aufwertungsmassnahmen durchzuführen, die für Bauern nicht das allerbeste Land sind.»

Dass solche Massnahmen dem Hasen auch wirklich helfen, hat das Vorgängerprojekt «Hopp Hase» in der Nordwestschweiz gezeigt. Von 2007 bis 2016 wurden dort verschiedene Strategien zur Förderung des Feldhasen getestet und umgesetzt. Als die beiden erfolgreichsten Massnahmen erwiesen sich hasenfreundliche Brachen sowie dünn eingesätes Wintergetreide.
Man weiss also, was dem Hasen hilft. Das Problem ist allerdings, dass seine Bestände grossflächig noch schneller schrumpfen als sie dort wachsen, wo etwas für ihn getan wird. Tim Schoch hofft, diesen Trend bald umkehren zu können. «Denn», sagt er, «grundsätzlich ist der Thurgau mit seinen klein parzellierten Ackerflächen ein perfektes Hasengebiet.»

Der Artikel ist erstmals in der «Tierwelt»-Ausgabe 13/2021 erschienen.