in Hauch von Melancholie liegt über der Szenerie: Der Walliser Herbst macht sich langsam davon, in den Felsen über dem Saastal hockt schon der Winter. Fast scheint es, also ob die Schafe von Martha Burgener ihre ohnehin schon langen Ohren noch länger hängen liessen. Dabei hätten sie viel Grund zur Freude. Nicht nur, weil sie es bei der Bergbäuerin gut haben. Vor allem aber auch, weil sich seit sieben Jahren Einheimische und «Üsserschwiizer» um den Fortbestand ihrer Rasse kümmern.

Noch vor ein paar Jahren sah das anders aus. Ganz anders. «Seit eh und je hatten wir hier im Saastal diese Schafrasse mit den langen Ohren und der Ramsnase», erzählt Burgener und krault einer Aue den Hals. «Auch meine Vorfahren waren, so wie ich, stolz auf unsere Mutten.» Die Mutten – der Ausdruck stammt vom französischen Mouton für Schaf – waren im Saastal bis vor wenigen Jahren reine Frauensache: «Von der Schafzucht konnte und kann hier ja niemand leben», erklärt die 60-Jährige. «Also gingen die Männer einer geregelten Arbeit nach und die Frauen kümmerten sich um die Mutten.»

Diese waren so etwas wie der Wintervorrat auf vier Beinen: «Wir schlachten die Schafe eigentlich, wie man sonst Schweine schlachtet», erklärt die Bergbäuerin. «Sie werden in einem Trog gebrüht um die Haare zu entfernen, die Haut aber bleibt. Danach werden die einzelnen Fleischstücke gesalzen und zum Trocknen an die Luft gehängt.» Einmal getrocknet, wird das Schaffleisch gesotten und ist eine Spezialität des Tales: «Saaser Gsottus». Beliebt sind auch die Saaser Würste, die mit Randen, Kartoffeln und Schaffleisch zubereitet werden. Dafür hat jede Familie ihre eigene Rezeptur.

«Gsottus» hin, Tradition her – die Saaser Mutten drohten auszusterben. Anfang des Jahrtausends gab es kaum mehr Schafhalter und entsprechend wenig Mutten: «Die Abwanderung aus den Tälern, die Intensivierung der Landwirtschaft und die Veränderungen in der Gesellschaft trugen zum Niedergang der Saaser Mutten bei», sagt Philippe Ammann, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung ProSpecieRara (PSR) und dort Bereichsleiter Tiere und Vermarktung.

Genetisch eigenständig
«Im Jahr 2013 begannen wir darum mit einem Programm zur Erhaltung der Rasse», schaut Ammann zurück. Und 2014 war das Programm schon fast wieder zu Ende: Viehdiebe aus Italien stahlen 104 Tiere direkt von einer Alpweide, ein Viertel der Population. Darunter auch 34 Mutten von Martha Burgener – ihre ganze Herde. «Ich war am Boden zerstört. Damals habe ich gemerkt, wie viel mir die Mutten bedeuten.» Das habe nichts mit Geld zu tun. Die Mutten – das sei eine Herzensangelegenheit und es habe ihr das Herz fast abgedrückt.

«Die Mutten sind sehr anhänglich und personenbezogen», erklärt Burgener. «Wenn ich sie rufe, kommen sie in der Regel schnell. Ruft ein Fremder, verziehen sie sich.» Ausserdem sei die Rasse sehr robust und berggängig. «Es gibt kaum Krankheiten und sogar die gefürchtete Moderhinke kennen wir hier nicht.»

Saaser Mutten sind ein Teil der Saaser Kultur. Aber auch Ammann wird immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sie tatsächlich eine eigenständige Saaser Rasse sind oder bloss die Walliser Verwandten der Bergamaskerschafe. «Wir haben darum eine Gen-Analyse in Auftrag gegeben», sagt er.

Die 2015 durchgeführte Analyse habe die genetische Eigenständigkeit der Saaser Mutten aufgezeigt. «Sie sind nicht einfach Bergamaskerschafe auf Schweizer Boden, verkreuzt mit dort bereits ansässigen Rassen, sondern tatsächlich eigenständig und somit ein wertvoller Bestandteil der Rassenvielfalt in der Schweiz.» Rein äusserlich sieht man das an den viel längeren Ohren der Saaser Mutten und an ihrer Farbe: Das Bergamaskerschaf ist reinweiss, die Mutten sind auch braun und schwarz gefleckt.

Offizielle Anerkennung
Die Aktivitäten der Saaser Schafbauern und von PSR einerseits, aber auch das Echo auf den dreisten Schafraub in allen Medien hatte Folgen: Von der Fussball-Legende Georges Bregy bis zur Spitzenköchin Irma Dütsch setzen sich viele Prominente für das Walliser Schaf ein. Die Saaser Mutte hat auch viele Sympathisanten in der «Üsserschwiiz», wie Ammann weiss: «Vor 2013 gab es kaum Schafhalter ausserhalb des Wallis, welche Saaser Mutten hielten. Heute gibt es etwa gleich viele Züchter in und ausserhalb des Wallis.»

So zeigen die nackten Zahlen, dass man auf vielen Ebenen vorwärtsgekommen ist, wie es Ammann ausdrückt: «Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es rund 2000 Saaser Mutten. Als wir mit der Rettungsaktion anfingen, waren es noch 300. Und jetzt sind es wieder etwa 700.» Enorm wichtig war die Einrichtung eines Zuchtbuchprogramms mit dessen Hilfe seither die Inzucht überwacht werden kann. Dazu kam Anfang 2020 dessen Ankopplung an die Tierverkehrsdatenbank.

Ein weiterer, wichtiger Meilenstein war diesen Herbst die Anerkennung der Saaser Mutten als Schweizer Rasse durch den Bund. Auch im Saastal selber und bei seinen Menschen hat sich etwas verändert: «Als alle meine Tiere gestohlen wurden, war die Solidarität der anderen Züchter gross», erinnert sich Burgener. «Eigentlich wollte ich gar nicht mehr neu anfangen, doch dann bekam ich einige Lämmer geschenkt oder konnte sie günstig kaufen.»

Heute hat sie wieder eine Herde von rund 30 Tieren. Im letzten Sommer schlossen sich die Schafbauern des Tales zusammen, engagierten einen Profi-Hirten und schickten ihre Schafe zum ersten Mal auf eine gemeinsame Alp. Bleibt die Frage: Ist die Rasse Saaser Mutte nun gerettet? Ammann wägt seine Worte ab und meint dann: «Wir haben die Talsohle durchschritten. Aber es kann noch viel passieren. Wenn etwa die Begeisterung nachlässt, ein paar Züchter abspringen oder wegsterben, dann sieht es sofort wieder anders aus. Über den Berg sind wir noch nicht.»