David Hablützel hat eben einer älteren Frau den Rest des Sommers gerettet. Und einigen Dutzend Hornissen das Leben. «Die Frau hat in einem Schopf einen Tisch, an den sie sich jeden Tag setzt», erzählt der Imker aus Schlatt im Kanton Thurgau. «Ausgerechnet unter dem Tisch hatten Hornissen ihr Nest gebaut.» Die Frau rief die Feuerwehr, diese informierte Hablützel. Denn der 40-Jährige ist nicht nur Imker, sondern auch ein Spezialist für die Umsiedlung von Bienen, Wespen und Hornissen. Hablützel nahm Kontakt auf mit der Frau, fuhr zu ihr und machte sich an die Arbeit. 

Ein Hornissennest ist ein Wunderwerk der Natur. Damit es entstehen kann, braucht es zunächst ein befruchtetes Hornissenweibchen, das den Winter überstanden hat. Diese künftige Königin sucht sich im Frühjahr einen geeigneten Nistplatz. Eigentlich bevorzugen Hornissen natürliche Baumhöhlen, doch weil diese selten geworden sind, bauen sie ihr Nest heute oft in menschlichen Siedlungen: auf Dachböden, in alten Schuppen oder in Storenkästen. 

Ein neues Daheim im Wald
Hat die Jungkönigin einen passenden Platz gefunden, baut sie als Erstes eine Art Zapfen an die Decke ihrer Nisthöhle. Er dient als Befestigung der ersten sechseckigen Wabenzellen, die sie nun daran heftet. Als Baumaterial verwendet sie morsches Holz, das sie mit Speichel vermischt. 

In dieser ersten Phase schuftet die Königin wie eine Wahnsinnige. Sie baut am Nest, legt Eier in die ersten Waben, erwärmt den Brutraum durch ein Zittern ihrer Brustmuskeln und ist daneben stets auf der Suche nach Pflanzensäften, um sich zu ernähren. Erst ungefähr ab Juli, wenn die ersten Nachkommen geschlüpft sind, kann es die Königin etwas ruhiger angehen. Sie fliegt immer seltener aus und überlässt schliesslich die anfallenden Arbeiten – Zellenbau, Brutpflege, Verteidigung, Futtersuche, Temperaturregelung – den Arbeiterinnen. Fortan konzentriert sie sich auf das Eierlegen. 

Im Verlauf des Sommers wächst das Hornissennest – deshalb und weil nun immer mehr Tiere ein-, aus- und im Garten umherfliegen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen darauf aufmerksam werden. Und David Hablützel kriegt Anfragen wie jene der Frau mit den Hornissen unter dem Tisch. 

Um ein Hornissennest umzusiedeln, entfernt Hablützel zuerst dessen Aussenhülle und saugt die darunter befindlichen Tiere mit einem speziellen Sauger vorsichtig in einen gepolsterten Behälter. Dann entfernt er das Nest und befestigt es mit Heissleim in einem grossen, extra für Hornissen entwickelten Holzkasten. Ist alles bereit, betäubt Hablützel die Hornissen im Absaug-Sammelbehälter mit Kohlenstoffdioxid. Sie verlieren kurz das Bewusstsein, und er kann sie gefahrlos in den Umsiedelungskasten befördern. Dann lädt er den Kasten in sein Auto und hängt ihn im Wald auf – mindestens 10 Kilometer vom früheren Standort entfernt. Dort können die Hornissen an ihrem Nest weiterbauen.

Beitrag über Hornissen auf «Kabel 1»

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Meist dürfen die Hornissen bleiben
Sein Motto laute: «Zum Schutz von Mensch und Tier», sagt Hablützel. Deshalb sei für ihn nach der Schilderung der Frau keine Frage gewesen, dass er das Hornissennest unter dem Tisch entfernen müsse. Doch längst nicht immer sei eine Umsiedelung nötig. Weit über 70 Prozent der Anfragen liessen sich mit ausführlicher Beratung oder Absicherungsmassnahmen so lösen, dass Garten- und Hausbesitzer das Nest nicht entfernen lassen. Denn: «Es beginnt langsam ein Umdenken stattzufinden.» Zwar hätten noch immer viele Menschen eine Heidenangst vor allem, was gelb-schwarz-gestreift sei und fliege – also vor Bienen, Wespen und Hornissen. «Aber es wird nicht mehr sofort zum Giftspray gegriffen.» Immer mehr setze sich die Erkenntnis durch, dass Wespen und Hornissen nicht einfach stechfreudige Lästlinge seien, sondern in vielerlei Hinsicht nützlich (siehe Text Seite 12). 

Trotzdem kursieren immer noch Schauergeschichten über sie: Drei Hornissenstiche, hört man oft, reichten, um einen Mensch zu töten, sieben für ein Pferd. Die Behauptung ist Humbug: Weil die Hornisse einen längeren Stachel besitzt, schmerzt ihr Stich zwar etwas mehr als jener einer Wespe oder einer Biene. Er ist aber nicht gefährlicher. Im Gegenteil: Eine Biene kann bei einem Stich zehnmal mehr Gift injizieren als eine Hornisse.

Giftspritzer ins Auge
Zudem, sagt Hablützel, seien Hornissen grundsätzlich friedfertiger als Bienen oder manche Wespen. «Deshalb arbeite ich am liebsten mit ihnen.» Hornissen stechen gemäss seiner Erfahrung nur, wenn sie sich bedroht fühlen: Etwa wenn jemand sich zu nahe an ihr Nest herantraut, nach ihnen schlägt, sie anpustet oder wenn ihr Nest (absichtlich oder unabsichtlich) erschüttert wird. Und bevor eine Hornisse steche, fliege sie meist einen Scheinangriff. «Sie berührt einen, ohne den Stachel auszufahren. Erst beim zweiten Angriff sticht sie wirklich zu.»

Das heisst nicht, dass Hablützel noch nie gestochen worden wäre: Einmal, erzählt er, habe ihn eine Hornisse derart unglücklich an der Nase erwischt, dass er notfallmässig ins Spital musste. Und einmal habe eine ihre Giftladung durch seinen Imkerschleier gespritzt – direkt in sein Auge. Der Arzt habe ihn aber so rasch wieder auf den Damm gebracht, dass er die abgebrochene Umsiedelung gleichentags zu Ende führen konnte. 

Seiner Faszination für Hornissen und andere Wespen tat dies keinen Abbruch. Im Gegenteil. Hablützel setzt sich nicht nur durch Umsiedelungen für den Schutz dieser Insekten ein. Kürzlich hat er gar auf eigene Faust eine Petition gestartet. Das Ziel: Wespen und Hornissen schweizweit unter Schutz zu stellen. «In Deutschland und Österreich sind diese Tiere geschützt», sagt Hablützel. «Damit sich ihre Bestände erholen können, müssen auch wir ihnen den nötigen Schutz geben.» Und sie fördern: Mit dem Ansäen von Wildblumen könne das jeder im eigenen Garten tun. Wenn dann sogar eine Hornisse im Gartenschuppen ein Nest anlegt, ist das ein gutes Zeichen, über das man sich freuen sollte. Und falls doch einmal Probleme auftauchen sollten, gibt es ja den Hornissenspezialisten. 

Dieser Artikel erschien erstmals 2019 in der «Tierwelt».