Still ist es im tropischen Regenwald ja wirklich nie. Aus den Kronen der Bäume flöten die Vögel, es zirpen, schwirren, rattern und summen die Insekten und in den Morgenstunden singen die Gibbons. Und doch: Sie hört man schon von Weitem. Mit krachenden Ästen kündigen sie sich an, es knacken die Zweige und rascheln die Blätter. Plötzlich teilt sich das Grün und ein Gesicht lugt hervor. Ein Gesicht, dessen Augen allzu menschlich wirken und die zweibeinigen Verwandten am Boden neugierig mustern. Es gehört einem Orang-Utan. Genauer gesagt, einer Orang-Utan-Mutter – und gleich hinter ihr folgt ihr Junges.

Munter turnt es auf der Liane herum, auf der die beiden nun eine Pause einlegen. Es ist vielleicht drei Jahre alt und wird vier weitere Jahre bei der Mutter bleiben, bevor es sich selbstständig macht. Momentan traut es sich aber noch nicht weit von ihr weg. Die staunende kleine Touristengruppe scheint ihm aber keine Angst zu machen. Wahrscheinlich ist es daran schon gewöhnt, im Rampenlicht zu stehen.

Denn wir befinden uns im Gunung-Leuser-Nationalpark in der indonesischen Provinz Sumatra Utara. Hier, gleich am Eingang des Parks unweit des Dorfs Bukit Lawang, sind solche hautnahen Begegnungen mit den rotbraunen Menschenaffen möglich. Die ansässigen Orang-Utans sind seit langer Zeit die Aufmerksamkeit gewohnt.

[IMG 24]

Der Nationalpark selbst ist um einiges grös­ser. Auf einer Fläche von fast 8000 Quadratkilometern erstreckt er sich über eine bergige Gegend im Norden Sumatras, einer der grössten Inseln der Welt. In ihm finden viele, zum Teil stark bedrohte Arten und Unterarten einen letzten Zufluchtsort. So leben hier die grössten verbliebenen Populationen von Sumatra-Tigern, Sumatra-Nashörnern, Sumatra-Elefanten – und eben auch des Sumatra-Orang-Utans.

Wie im Dampfbad
Dieser ist wie die beiden anderen Arten, der Borneo-Orang-Utan und der erst 2017 unter der Leitung der Universität Zürich beschriebene Tapanuli-Orang-Utan («Tierwelt online» berichtete), vom Aussterben bedroht. Ebenfalls in Gefahr ist sein Lebensraum. Um zu überleben, sind alle Orang-Utans auf intakten Regenwald angewiesen. Sie verbringen praktisch ihr ganzes Leben auf Bäumen und kommen selten bis gar nie herunter. Die Bäume liefern ihnen Nahrung, Deckung und Schlafplätze. Kein Wunder sind sie für die Einheimischen «Waldmenschen»: «Orang» bedeutet auf malaiisch «Mensch» und «hutan» heisst so viel wie «Wald».

Obwohl der Gunung-Leuser zusammen mit zwei weiteren Nationalpärken der Gegend zum Weltnaturerbe gehört, setzte ihn die Unseco 2011 auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes. Ungemach droht ihm demnach durch illegalen Holzschlag und Wilderei, durch Strassenbau und landwirtschaftliche Entwicklung sowie Behörden, die zu wenig durchgreifen.

[IMG 25]

Im Wald bei Bukit Lawang scheint die Welt aber noch in Ordnung zu sein. Das Dorf am Fluss Bohorok ist der Ausgangspunkt für einen Besuch im Gunung-Leuser-Nationalpark. Seit Jahren ist es ein bekannter Touristenort. In den gemütlichen Gasthäusern und Restaurants tummeln sich Rucksackreisende aus der westlichen Welt ebenso wie indonesische Familien, die einmal einen wilden Orang-Utan sehen möchten.

Ohne Guide und Eintrittsbewilligung darf aber niemand von ihnen den Park betreten. Hat man beides organisiert, muss erst einmal ein ziemlich steiler Hügelzug erklommen werden. Eine schweisstreibende Angelegenheit im heissen, feuchten Tropenklima. Oben angekommen kann man zum Glück ein fast schon kühles Lüftchen geniessen. Findet man im Dickicht eine Lücke um hinauszuschauen, wird der Blick frei auf das Dorf, das man unter sich gelassen hat, und die grüne Wand des Dschungels am gegenüberliegenden Hügel. Schnellen und zielsicheren Schrittes führt unser Guide aber auch schon weiter, den Hügel wieder hinunter ins nächste Tal – und erneut fühlen wir uns wie im Dampfbad.

Die Mühen lohnen sich. Nicht nur begegnen wir mehrmals Orang-Utans und kreuzen weitere Primaten unseren Weg, darunter ein schwarzbepelzter Siamang sowie mehrere Thomas-Languren. Seelenruhig spaziert ein Argusfasan an uns vorbei. Immer wieder bleibt der Guide stehen und zeigt auf Frösche, Schlangen und Echsen wie Flugdrachen oder Skinke, die wir wohl übersehen hätten.

[IMG 26]

Vorsicht vor der Dschungelkönigin
«Nehmt euch in Acht vor Mina», warnt er dann plötzlich. Mina, die Königin des Dschungels, wie sie die Einheimischen nennen, ist weit herum bekannt und gefürchtet. Wohl schon über 40 Jahre alt, ist das Orang-Utan-Weibchen nach wie vor zur Stelle, wenn es darum geht, Touristen und Guides einen Schrecken einzujagen, sie zu jagen und manchmal auch zu verletzen. Wie es heisst, wurde Mina als Jungtier unter schlechten Bedingungen als Haustier gehalten und im ehemaligen, mit Schweizer Beteiligung gegründeten Rehabilitationszentrum in Bukit Lawang in die Freiheit entlassen.

Mina mag ein Extremfall sein, doch die verlorene Scheu vor den Menschen hat für alle Orang-Utans in diesem Gebiet ihre Schattenseiten. So gibt es viele Guides, die die Tiere füttern, um sie anzulocken und ihrer Gruppe vorzuführen. Dabei besteht die Gefahr, dass die Affen sich mit menschlichen Krankheiten anstecken, gegen die sie nicht immun sind. Ausserdem ist nicht jedes Futter für die Früchte mampfenden Primaten geeignet.

Einige Touristen und Guides lassen auch ihre Essensreste im Wald liegen. Orang-Utans wie Mina lassen sich da natürlich nicht zweimal bitten. Sollten die Orang-Utans zudem eines Tages in nicht geschützte Gebiete abwandern, könnte ihnen ihre Vorliebe für leicht zu kriegendes Menschenessen zum Verhängnis werden, wenn sie sich beispielsweise über kultivierte Fruchtbäume hermachen oder in Palmölplantagen eindringen.

Der Orang-Utan-Mutter mit ihrem Kleinen bleibt dieses Schicksal hoffentlich erspart. Die Weibchen sind oft territorial und bleiben in ihren Revieren. Das Interesse an den menschlichen Beobachtern hält nicht lange und die beiden widmen sich wieder ihren Orang-Utan-Tätigkeiten. Auch die sichere Distanz wahren sie stets. Als sie schliesslich weiterziehen, hören wir noch ihr Rascheln in den Baumkronen, bis es schliesslich in den Geräuschen des Dschungels verklingt.

Hinweis: Diese Reise fand vor der Corona-Pandemie statt. Da unklar ist, wie sich die Flugbranche von der Krise erholt, verzichtet die «Tierwelt» auf Tipps zur Anreise.

[EXT 1]