Frau König, Hausmäuse sind extrem anpassungsfähig. Zusammen mit dem Menschen haben sie die Welt erobert. Welche Rolle spielt dabei das Sozialverhalten?
Sozialverhalten ermöglicht, auf sich ändernde Situationen reagieren zu können. Und das beginnt schon bei der Brutpflege. So können die Weibchen die Menge an Milch, den Entwöhnungszeitpunkt oder die Anzahl der entwöhnten Jungen an die Nahrungsverfügbarkeit anpassen. Sie können sich aber auch mit einer Vielzahl an Sozialpartnerinnen und Paarungspartnern arrangieren und sich in neue Gruppen integrieren. Ändert sich die soziale Umgebung, zum Beispiel, wenn ein Gruppenmitglied von einer Katze gefressen wird, können die Mäuse sehr schnell darauf reagieren. Das hat vermutlich dazu geführt, dass Hausmäuse zusammen mit dem Menschen so erfolgreich sind.

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Liegt es nicht auch an der kurzen Generationszeit?
Wir wissen von unserer frei lebenden Population, dass Hausmäuse keineswegs eine derart kurze Generationszeit haben wie Labormäuse. Weibchen werden zwar mit gut vierzig Tagen geschlechtsreif, aber die meisten haben ihren ersten Wurf sehr viel später. Die Generationszeit beträgt ungefähr zehn Monate bis zur ersten erfolgreichen Jungenaufzucht, aufgrund hoher Konkurrenz unter Weibchen.

Ihre frei lebende Hausmauspopulation lebt in einer Scheune in der Nähe von Zürich. Sie erforschten die Tiere dort fast 20 Jahre lang. Was ist das Besondere daran?
Unsere Scheunenpopulation ist offen. Das heisst, es gibt Zuwanderung und Abwanderung. Zuvor hatte man Hausmäuse im Labor oder in Gehegen studiert. Mir war aber klar, dass die Tiere sich anders verhalten, wenn sie die Wahl haben, mit wem sie sozial interagieren wolle. Ein Männchen, das in einem Laborexperiment von einem dominanten Männchen verletzt wird, ist hochgradig gestresst. In der Scheune ist das anders, denn dort kann es ausweichen. Ausserdem sind Labormäuse durch den Menschen domestiziert. Wenn man verstehen will, weshalb die Tiere gewisse Verhaltensweisen zeigen, sollte man Hausmäuse also unter den Bedingungen halten, unter denen sie natürlicherweise vorkommen.

In der Scheune haben Sie aber ebenfalls Domestikationserscheinungen festgestellt. Verfälscht das nicht auch Ihre Erkenntnisse?
In unserer Population haben wir zunehmend Mäuse mit weissen Flecken im Fell beobachtet, und die Schädel wurden kürzer. Das sind Effekte, die mit zunehmender Zahmheit auftreten, wie wir sie auch von Hunden, Katzen und anderen domestizierten Tieren kennen. Allerdings muss man sich fragen, ob dies Erkenntnisse verfälscht. Es macht Hausmäuse ja schliesslich aus, dass sie eine gewisse Toleranz gegenüber dem Menschen zeigen. Wir vermuten, dass diese Effekte überall dort eintreten, wo Hausmäuse über längere Zeit relativ unbehelligt am selben Ort leben. Zudem unterscheiden sich Populationen auch in ihrer Selbstdomestikation, je nach Dichte, Feinddruck und Lebensumständen.

Sie haben die Konkurrenz unter den Weibchen erwähnt. Um was konkurrieren sie?
Die Weibchen konkurrieren um anderes als die Männchen. Diese kämpfen nämlich typischerweise um den Zugang zu Weibchen und sind sehr aggressiv. Weibchen dagegen konkurrieren um die Ressourcen, die sie brauchen, um Junge aufzuziehen. Dazu gehört ein sicheres Nest. Unter Weibchen ist Aggression viel seltener. Sie kommunizieren ihre Konkurrenzfähigkeit vermutlich über Duftstoffe.

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Ihr besonderes Augenmerk galt der gemeinsamen Jungenaufzucht der Weibchen. Wie kommt die zustande?
Junge Weibchen, die noch nicht sehr konkurrenzfähig sind, können ihren Fortpflanzungserfolg steigern, wenn sie ihre Würfe zusammen mit einer Partnerin aufziehen. So sind sie in der Lage, überhaupt Nachkommen zu produzieren, denn viele Weibchen pflanzen sich gar nicht fort. Erreichen sie aber ein gewisses Gewicht, ziehen sie ihre Würfe alleine auf und haben damit den höchsten Fortpflanzungserfolg.

Woran liegt das?
Mit zunehmendem Alter werden Weibchen schwerer. In der Konkurrenz um die Fortpflanzung haben sie damit einen Vorteil und können ihre Würfe alleine aufziehen.

Wie alt sind sie dann?
Manche können schon den ersten Wurf alleine aufziehen. Häufig ist es aber so, dass sie alleine aufziehen, wenn sie mal ein Alter von über einem Jahr erreicht haben. Viele erreichen dieses Alter aber nicht.

Es macht Hausmäuse aus, dass sie eine Toleranz gegenüber dem Menschen zeigen.

Barbara König<br/>Verhaltensbiologin

Mit welchen Nachteilen ist die Kooperation bei der Jungenaufzucht verbunden?
Bei der gemeinsamen Jungenaufzucht besteht das Risiko, dass einige der Jungen durch die Partnerin getötet werden. Dieser Infantizid geschieht vor allem innerhalb der sozialen Gruppe und er ist der Grund, weshalb Weibchen, die gemeinschaftlich aufziehen, kleinere Wurfgrössen haben. Das sind die Kosten der Kooperation. Aber es lohnt sich, diese Kosten zu tragen, weil man so immerhin einige Nachkommen grossziehen kann.

Es ist also wichtig, eine Partnerin zu finden, auf die man sich verlassen kann.
Ja. Bei der gemeinsamen Jungenaufzucht spielt die Verwandtschaft eine Rolle, viel wichtiger aber ist die Bekanntschaft. Weibliche Hausmäuse bauen untereinander soziale Bindungen und Beziehungen auf. Man kann da schon fast den Begriff Freundinnen verwenden. Wir haben auch beobachtet, dass in Gruppen, in denen mehr Verwandte leben, mehr Kooperation auftritt. Weibchen wählen dann jedoch nicht zwingend die Nächstverwandte als Partnerin, sondern eine sehr vertraute. Eine Schwester für gemeinschaftliche Jungenaufzucht zur Verfügung zu haben, ist eher selten.

Was gibt den Ausschlag, wie gewählt wird?
Die Zeit, die die Weibchen zusammen in derselben Nestbox verbringen. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto besser kennen sie sich und haben Information über das Verhalten der Partnerin. Ein Weibchen muss schliesslich auch darauf vertrauen können, dass die Partnerin sie nicht plötzlich mit beiden Würfen alleine sitzen lässt.

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Erkennen sich Mäuse ein Leben lang?
Laborstudien legen nahe, dass sie sich ohne weiteren Kontakt nach ein paar Wochen nicht mehr erkennen. In der Scheune versuchen die Weibchen dort zu bleiben, wo sie aufgewachsen sind. In der eigenen sozialen Gruppe trifft man sich regelmässig, kennt die Gruppenmitglieder, man kennt die Umgebung, weiss wo das Futter und die besten Verstecke zu finden sind.

Sie haben aus der Scheune noch viele weitere Erkenntnisse gewonnen. Was fanden Sie sonst noch spannend?
Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass Mäuse sich zurückziehen, wenn sie krank sind. Sie sind weniger aktiv, sie fressen weniger und sie haben weniger Sexualkontakte. Das ist ein angepasstes Verhalten, das verhindert, dass sich eine Infektion in der ganzen Population ausbreiten kann. Gerade im Hinblick auf Covid-19 ist das sehr interessant. Hausmäuse machen quasi auch Social Distancing, wenn auch nicht bewusst, sondern weil sich das im Laufe der Evolution bewährt hat.