Aus allen Ecken des Zimmers kommen Katzen angerannt, wenn Wendel Stoop den Federwedel durch die Luft schwingt. Grosse und kleine Fellknäuel springen akrobatisch in die Höhe, einige drehen fast einen Salto, um die «Beute» zu erwischen. Mit 19 Siamesen, wie die Siam-katzen auch genannt werden, teilt Stoop sein Haus im solothurnischen Günsberg. Sieben Kätzinnen werden in der Zucht mit Zwingernamen «Silver Fox» eingesetzt, die drei Würfe vom letzten Jahr sind jetzt gut fünf Monate alt. Im Untergeschoss leben die vier Zuchtkater, ihnen steht zusätzlich ein Aus­sengehege zur Verfügung. Stoop ist beim Spiel mit seinen Tieren sichtbar in seinem Element. Seit 1976 hält er die edlen Siamkatzen, deren Haltung im früheren Thailand der Königsfamilie vorbehalten war, bevor sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa kamen.

Angefangen hat der pensionierte Sozialarbeiter mit einer einzelnen Katze. Damals wohnte er noch in einem Hochhaus in der Stadt Zürich. Die Rasse hat er sich ausgesucht, weil es hiess, sie lasse sich gut in der Wohnung halten. «Und wenn man dann von dem Virus befallen ist, lässt es einen nicht mehr los», erzählt Stoop und nimmt liebevoll zwei seiner Jungtiere auf den Arm.

Dabei hatte er auch Rückschläge zu verkraften. In den Achtzigerjahren schleppte er durch einen Deckkater das Feline Leukämie-Virus (FeLV) in die noch junge Zucht ein und musste mit neuen Tieren wieder komplett von vorne anfangen. Was fasziniert ihn so sehr an dieser Rasse? «Der athletische Körper, dieses Drahtige, gefällt mir, vielleicht weil ich eben genau nicht so bin», sagt der 68-Jährige und lacht. «Und natürlich der Charakter, die machen alles mit, haben vor nichts Angst.»
Siamkatzen gelten als temperamentvoll, eigenständig und intelligent. Dass ihr Verhalten gar etwas Hundeartiges hat, bestätigt auch der Züchter. Wenn man die Katzen daran gewöhne, könne man durchaus auch mit ihnen an der Leine spazieren gehen.  

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Eigentlich wüssten es alle besser
Äusserlich fallen auf den ersten Blick die leuchtend blauen, mandelförmigen Augen im dreieckigen Gesicht auf. Ihre spezielle Färbung verdankt die Rasse einer Genmutation. Dadurch ist ein Enzym, welches in den Hautzellen für die Pigmentierung zuständig ist, nur noch bis zu einer gewissen Temperatur funktionsfähig. Im warmen Mutterleib arbeitet das Enzym nicht und die Kätzchen werden weiss geboren. In den ersten Lebensmonaten wird das Fell in kühleren Bereichen wie Ohren, Gesicht, Schwanz und Extremitäten dann nach und nach gefärbt, während der wärmere Rumpf weiss bis cremefarben bleibt.

Wie bei den meisten Rassen hat die Zucht auch bei den Siamesen ihre Schattenseiten. Immer weiter vererbte Genmutationen haben dafür gesorgt, dass einzelne Gesundheitsprobleme gehäuft auftreten. So leiden Siamesen vermehrt unter Amyloidose, einer unheilbaren Krankheit, bei der Proteine in Organen und Geweben abgelagert werden und diese dadurch mehr und mehr in ihrer Funktion einschränken. Auch einzelne Tumorarten oder Fehlentwicklungen des Herzens treten überdurchschnittlich oft auf. Ausserdem sind erblich bedingte Augenprobleme bekannt wie Strabismus (Schielen) oder die progressive Retinaatrophie, eine langsam fortschreitende Zerstörung der Netzhaut, die zur Erblindung führt. 

Dabei wäre eigentlich viel Wissen vorhanden: Online-Datenbanken mit Stammbäumen zeigen genetisch bedingte Krankheiten über Generationen von Vorfahren auf und helfen bei der Auswahl der Verpaarung. Doch laut Stoop deklarieren längst nicht alle Züchter die Gesundheitsprobleme ihrer Tiere ehrlich. Viel zu sehr sei nur auf äussere Merkmale geachtet worden, auf tiefliegende Ohren und einen ausdrucksstarken Körper. «Einigen Züchtern geht es nur darum, sich zu profilieren, denen ist egal, wenn eine Katze nicht so lange lebt», sagt Stoop.

SteckbriefTyp: Elegant, langgestreckt, hochbeinig, athletisch, schlank
Fell: Kurz, seidig, glatt anliegend, ohne Unterwolle
Farbe: Vier Grundfarben: Seal, Blue, Chocolate, Lilac
Weitere Farben: Cream, Red, Cinnamon, Fawn. Auch weisse Tiere (Foreign White) kommen vor
Gewicht: 2,7 – 4,5 Kilo 
Augen: Tiefblau, mandelförmig, schräggestellt
Ursprung: Thailand
Aktivität / Bewegungsdrang: Aktiv, bewegungsfreudig
Kontakte: Sehr kontaktfreudig gegenüber Menschen, Artgenossen und anderen Tieren
Kommunikation: Laute Stimme
Kinderfreundlichkeit: Gut geeignet, verspielt, nicht ängstlich
Wohnungseignung: Gut geeignet, schätzt Balkon
Pflegeaufwand: Gering, wenig Fellpflege nötig

Der Wesensart Sorge tragen
Die halbwüchsigen Kätzchen inspizieren inzwischen neugierig die Kamera des Fotografen. Sie seien schon alle vergeben. Einer der Kater soll künftig in der Zucht eingesetzt werden, für ein solches Jungtier werden rund 1800 Franken bezahlt. Die anderen gelten als sogenannte Liebhabertiere und haben einen Wert von rund 1000 Franken. Ob sich mit der Zucht Geld verdienen lässt? Stoop schüttelt den Kopf. Wenn man rechne, wie gross die Ausgaben für Tierarzt, Futter und Katzenstreu seien, bleibe davon nicht mehr viel übrig. Die vielen Stunden Arbeit, gerade bei der Aufzucht, seien da noch nicht mitgerechnet. «Für mich ist es ein Hobby, das soll Freude machen und das darf auch etwas kosten.»

Pro Jahr bringt seine «Silver Fox»-Zucht fünf Würfe mit jeweils vier bis fünf Welpen hervor. Bei der Verpaarung achtet der Rentner darauf, genetisch bedingte Krankheiten möglichst auszuschliessen sowie auf einen guten Charakter der Elterntiere: «Anhänglich und verschmust sollen sie sein und auch verträglich untereinander, die Jungen schauen sich das Sozialverhalten nämlich bei den Müttern ab», sagt Stoop.

Seine Siamesinnen seien aufopferungsvolle Mütter. Haben mehrere gleichzeitig Junge, betreiben sie Jobsharing. Diesmal beteiligt sich sogar eine Kätzin als Amme, die gar keinen eigenen Wurf hatte. Sie hat sie sich sozusagen hormonell mit ihren Kolleginnen «gleichgeschaltet» und produziert jetzt ebenfalls Milch.

Der leidenschaftliche Züchter schaut genau hin, wenn er seinen Nachwuchs platziert. Wohnungskatzen sollen zu zweit leben oder bei Besitzern, die sehr viel zu Hause sind. Das Zusammenleben mit Kindern und Hunden funktioniert seiner Erfahrung nach problemlos. Es brauche eine Eingewöhnungsphase, aber Siamkatzen seien grundsätzlich aufgeschlossen und offen für Neues. Wichtig ist, dass sie die Möglichkeit haben, sich körperlich auszutoben, und auch geistig beschäftigt sind. Stoops Katzen lieben es, auf der Terrasse zu sitzen und ihre Umwelt zu beobachten. Freigang ist für ihn keine Bedingung, ausserdem sind die eleganten Tiere mit ihrem kurzen Fell ohne Unterwolle nicht gerade wetterfest. Wenn ihnen aber stets ein trockener Platz zur Verfügung steht, spricht nichts dagegen, sie rauszulassen. Siamesen sind gute Jäger, man muss also damit rechnen, dass sie auch mal eine Maus oder einen Vogel mit nach Hause bringen. 

Wendel Stoops Katzen haben nicht nur tierische Beute gemacht, sein Wohnzimmer schmücken unzählige Siegerpokale und Medaillen von Rasseausstellungen. Heute präsentiert er seine Tiere nur noch selten: «Das überlasse ich den Jungen.» Für die Zukunft wünscht er sich, «dass diese das Vermächtnis erhalten und die Rasse nicht zu Tode züchten, sondern dem ausserordentlichen Wesen der Siamkatzen Sorge tragen».