Wer einen Schwarm Strassentauben aufmerksam beobachtet, dem fällt einiges auf. Da sind die unterschiedlichen Färbungen, die sie aufweisen. Da ist das höchst interessante Verhalten dieser Kulturfolger. Wer aber ganz genau hinschaut, dem fallen oft auch Behinderungen auf. Bei überraschend vielen Tauben fehlen einzelne Gliedmassen wie etwa Zehen. Manchmal fehlen einer Taube gar alle Zehen und sie humpelt auf dem Schienbeinstumpf über die Strassen.

In der Regel entstehen diese Handicaps durch Unfälle. Entweder verheddern sich die Tauben in dünnen Fäden, die ihnen die Gliedmassen abbinden, oder sie werden direkt abgetrennt. Da Strassentauben immer wieder Greifvogelattacken ausgesetzt sind, verwundert es, dass sie mit solchen Behinderungen trotzdem so gut zurechtkommen. Denn die Tauben selber scheinen in ihrem Bewegungsablauf und selbst in ihrer Fortpflanzung kaum beeinträchtigt zu sein.

Nun könnte man meinen, dass solche Behinderungen nur bei Strassentauben auftreten; in geregelten Rassetaubenzuchten sind die Tiere ja geschützt und behütet. Aber weit gefehlt: Immer wieder sieht man vereinzelte Tauben, die zum Teil schon jahrelang mit Behinderungen leben. So sah ich bei einem Züchter einen Schlesischen Kröpfer, bei dem der Augapfel völlig zerstört und eingedellt war. Die Taube war auf dem rechten Auge vollständig blind.

Ein Auge reicht zur Aufzucht
Der Züchter konnte nicht erklären, wie es zu dieser Verletzung gekommen war. Aufgefallen ist sie ihm nämlich erst, als der Augapfel schon mehr oder weniger eingetrocknet war. Die Taube habe sich bis dahin völlig normal verhalten, sich im Schlag uneingeschränkt bewegt und sogar weiterhin ihre Jungen aufgezogen. Nun könnte man dem Züchter vorwerfen, er kontrolliere seine Tauben nicht richtig. Dem ist aber nicht so: Denn die Taube wandte dem Züchter nämlich stets ihr gesundes, sehendes Auge zu. Sie hat sich also rasch mit ihrem Handicap arrangiert.

Da es sich um eine hochwertige Zuchttaube handelt, durfte diese im Schlag verbleiben und zieht dort – nun schon seit mehreren Jahren – ihre Jungen zuverlässig und mit verschiedenen Partnern auf. Auch ich kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Von einem Züchterkollegen habe ich eine Taube mit einem Augendefekt erhalten, die sich von Anfang an, selbst in der neuen, fremden Umgebung, problemlos orientieren konnte. Sie setzte sich auch bei Auseinandersetzungen mit Artgenossen immer durch.

Tauben mit Handicap sind zwar behindert, das hält sie jedoch nicht davon ab, in der Zucht wertvolle Dienste zu leisten. Und während Strassentauben ständigen Attacken von Greifvögeln ausgesetzt sind, dürfen sie erst noch im geschützten Raum bei ihrem Züchter leben.