Die Felsentaube (Columba livia) ist eigentlich eine sehr unspektakuläre Erscheinung. Die meisten Menschen – Taubenzüchter nicht ausgeschlossen – würden auf den ersten Blick kaum einen Unterschied zwischen ihr und einer Strassentaube feststellen. Sie sind mehr oder weniger grau – die Züchter sagen blau – mit zwei schwarzen Flügelbinden. Die Läufe sind unbefiedert und auch sonst sind nirgends Federstrukturen zu erkennen. Felsentauben sind sehr schnelle und wendige Flieger, sodass sie Greifvögeln in freier Wildbahn manchmal ein Schnippchen schlagen können. Trotz aller Schlichtheit ist die Felsentaube die Urahnin aller bekannten Taubenrassen. Es gibt jedoch immer noch einige Taubenzüchter, die das nicht glauben können. Und aufgrund der Taubenvielfalt könnte man fast meinen, dass sie recht haben. Untersuchungen haben aber definitiv das Gegenteil bewiesen.

Die Entwicklung der Taubenrassen dauert schon sehr lange. Man geht heute davon aus, dass sich die Felsentauben den Menschen angeschlossen haben. Noch heute kann man Tauben in völliger Freiheit halten, ohne dass sie ihre Menschen verlassen. Die Bindung zwischen Mensch und Taube ist schon immer sehr eng gewesen. Man kann sich also vorstellen, dass die Tauben von den Menschen genau beobachtet wurden. Erste Mutationen, also Veränderungen im Erbgut, die zu einem veränderten Aussehen führten, waren bestimmt eine Sensation. Zu Beginn waren es wahrscheinlich andere Farben, die die Menschen in ihren Bann zogen. Später kamen wohl Zeichnungen hinzu, die im wahrsten Sinne des Wortes je nach persönlichem Geschmack der «Züchter» selektiert wurden. Tauben bereicherten nämlich schon immer den Speiseplan und man kann es den damaligen Züchtern nicht verdenken, dass sie die Tauben schlachteten, die ihnen nicht gefielen. 

Schon die Römer kannten Riesentauben
Im Lauf der Jahrhunderte sind so Taubenrassen mit unterschiedlichsten Farben, Zeichnungen und Federstrukturen entstanden. Je nach Region wurde der persönliche Geschmack favorisiert. Man kennt deshalb zum Beispiel Tauben mit farbigen Flügelschildern eigentlich in allen mitteleuropäischen Ländern, und dennoch haben sie charakteristische Unterschiede wie Latschen, Hauben, Kappen, Farb intensitäten und so weiter.

Die Rassen, die der Felsentaube in der Grösse und im Gewicht fast gleichen beziehungsweise nur geringfügig darüber liegen, werden heute landläufig als Feldtaubentyp in veredelter Form bezeichnet. Die Zahl der Rassen, die von der Felsentaube in diesem Bezug deutlich abweichen, ist aber recht gross. Dabei sind deutlich grössere und schwerere Tauben schon ewig bekannt. Schriftsteller aus der Zeit des Römischen Reiches berichteten von sehr grossen Tauben. Man geht heute davon aus, dass es sich dabei um die Vorfahren der heute als Römer bezeichneten Taubenrasse handelt. Sie sind neben den französischen Montauban und den Ungarischen Riesentauben noch immer die absoluten Riesen des Taubenreiches. Mehr als ein Kilogramm Körpergewicht und eine Flügelspannweite von mehr als einem Meter sind schon Zahlen, die beeindrucken. Sie wirken grob, derb und massig – ohne rassetypischen Adel vermissen zu lassen. In krassem Gegensatz dazu stehen zum Beispiel die Wiener Tümmler. Sie sind kaum 300 Gramm schwer und äusserst grazil in der Linienführung. 

Man könnte die beiden Rassen durchaus in den Vergleich eines Bernhardiners mit einem Whippet stellen oder eines Shire Horse mit einem Vollblutaraber. Damit wird deutlich, dass die Grösse und das Gewicht auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Beweglichkeit und Agilität einer Rasse haben. Bei Tauben bedeutet das, dass es Rassen gibt, die aufgrund ihres Gewichtes und ihrer Anatomie kaum noch fliegen. Das ist kein Problem, da die Züchter ihnen optimale Lebensbedingungen schaffen. Gerade die schweren Formentaubenrassen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Mastzwecken gezüchtet wurden, gehören dazu.

Die meisten Taubenzüchter haben eine Vorliebe für einen bestimmten Taubentypus. Und Tauben vom selben Typus kann man in der Regel problemlos zusammen halten. Einige lieben aber auch die Gegensätze und haben ihre Freude an zum Teil unterschiedlichsten Rassen. Da stellt sich die Frage, ob solche Tiere miteinander harmonieren und im selben Taubenschlag zusammen untergebracht werden können.

Mögen sie auch noch so unterschiedlich aussehen: Sie alle sind direkte Abkömmlinge der Felsentaube und haben entsprechend die gleichen Bedürfnisse und Ansprüche. Grundsätzlich ist deshalb nichts gegen eine gemeinsame Haltung von Grossen und Kleinen einzuwenden, sofern ein paar Dinge beachtet werden. Dazu zählen der Rasse angepasste Nistzellen, Futterkomponenten, Ausflugsgrössen, Nistschalen, um nur ein paar Punkte zu nennen. Doch selbst wenn man alles optimal herrichtet, werden auf Dauer die einzelnen Rassen ihre Vorteile gegeneinander ausspielen. Die kleineren und wendigeren Rassen werden wohl die eher oben liegenden Nistzellen in Anspruch nehmen, während die schweren Rassen die bodennahen Nistzellen besetzen und auch verteidigen werden. Diesbezüglich herrscht also, ausreichend Platz vorausgesetzt, unter den Tauben so etwas wie ein «Gentlemen’s Agreement». 

Eine Rasse für oben, eine für unten
Wer nun denkt, dass die kleinen und leichteren Tauben im täglichen Miteinander den Kürzeren ziehen, der täuscht sich. Gerade das Gegenteil ist die Regel. Sie spielen ihre Wendigkeit gekonnt aus und gehen keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Ein mir bekannter Züchter berichtete zum Beispiel, dass in seiner Zucht die deutlich kleineren Süddeutschen Blassen die viel grösseren Coburger Lerchen regelmässig in die Schranken weisen und die eigentlichen Herren im Taubenschlag sind. Das hat mich dann doch verwundert, da die Coburger Lerchen eigentlich als recht zänkisch bekannt sind.

Auf jeden Fall ist bei gemeinsamer Haltung auf üppigere Platzverhältnisse als sonst zu achten. Die unterschiedlichen Rassen müssen sich aus dem Weg gehen können. Das Territorialverhalten, das je nach Rasse unterschiedlich ausgeprägt ist, kann sonst dazu führen, dass der Zuchterfolg gleich null ist. Man stelle sich zum Beispiel mehrere Rassen in einem Taubenschlag vor, die sich mehrheitlich auf dem Boden aufhalten. Sie streiten um die unteren Nistzellen und die oberen bleiben unbesetzt. Der ideale Weg ist hier also mit Sicherheit, eine Rasse für oben und eine für unten zu halten.

Wer allerdings auf die Nachzucht keinen so grossen Wert legt, der kann hier grosszügiger sein und sich eine bunt gemischte Taubengemeinschaft zulegen. Für eine zielgerichtete Zucht sollte man sich hingegen eher konzentrieren und nicht verzetteln. Stimmen die Rahmenbedingungen, ist aber auch hierbei nichts gegen unterschiedliche Rassengrössen einzuwenden. Neben dem vielleicht aussergewöhnlichen Aussehen lassen sich in einer solchen Schlaggemeinschaft mit Sicherheit interessante Beobachtungen machen, die auf das Wesen der einzelnen Rassen schliessen lassen.