Der Begriff «Stress» ist eigentlich neueren Datums. Der Duden beschreibt Stress als eine «erhöhte Beanspruchung beziehungsweise Belastung psychischer oder physischer Art». Auch der Begriff «Burn-out» für das Ausgebranntsein hängt eng mit Stress zusammen. Nun könnte man fragen, was diese Begriffe aus der menschlichen Diagnostik mit Tauben zu tun haben. Wahrscheinlich mehr, als wir zunächst denken. Deshalb muss man, bevor man etwas tiefer in die Materie einsteigt und zum eigentlichen Thema der Stressvermeidung im Taubenschlag vordringt, den Stress aus menschlicher Sicht näher betrachten.

Man weiss heute, dass es zwei verschiedene Arten von Stress gibt, und zwar einen positiven und einen negativen. Der positive Stress ist allerdings meistens nur für einen kurzen Zeitraum nutzbar. Er motiviert einen Menschen und setzt Reserven frei. Diese können dann zur Bewältigung einer Aufgabe eingesetzt werden. Beim negativen Stress sieht das anders aus. Dieser entsteht durch eine dauerhafte Belastung auf den Körper und die Psyche. Stress macht krank – dieser Ausspruch ist mehr denn je in aller Munde. Man merkt es selbst sehr schnell, wenn die Belastungen auf Dauer zu hoch sind. Wir werden krankheitsanfällig. Das muss sich nicht in besonders schweren Erkrankungen zeigen. Schon ein Schnupfen, eine leichte Grippe, Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt, erhöhte Nervosität und so weiter können deutliche Parameter sein.

Wohl jeder war schon einmal in der Situation, dass er das an sich selbst bemerkt hat. Im schlimmsten Fall kann permanenter Stress zum Burn-out führen. Umgangssprachlich könnte man auch sagen, dass man nichts mehr schafft. Man ist einfach nicht in der Lage, die an einen gestellten Forderungen zu erfüllen. Stress macht also wirklich krank, und es ist unendlich schwer, diesen einzustufen. Denn jeder empfindet Stress anders und reagiert auch anders. Zudem tun wir Menschen uns schwer, uns einzugestehen, dass ebendiese nicht messbare Belastung uns unter Umständen so massiv beeinträchtigen kann.

Etwas mehr Distanz, bitte
Wer Tauben züchtet oder hält, muss sich nichts vormachen. Auch Tauben kennen Stress. Und nachdem wir Menschen uns schon bei uns selbst schwertun, allfälligen Stress richtig einzuschätzen, fällt es Züchtern bei ihren Tauben noch viel schwerer. Doch welche Faktoren bedeuten für Tauben eigentlich Stress und wie zeigt er sich? Hilfreich kann hier sein, wenn der Taubenhalter immer wieder sich selbst zum Vergleich heranzieht.

Jede Taube braucht ihre Distanz zu ihren Schlagmitbewohnern. Wer seine Tauben aufmerksam beobachtet, merkt schnell, dass nicht jede Taube mit der anderen gleich gut auskommt. Diese Abneigungen gibt es sowohl unter Täubern als auch unter Täubinnen. Und selbst mit einem Paarungspartner kann es mal nicht rund laufen. Es hat wohl jeder Züchter schon einmal erlebt, dass ein Paar einfach nicht zusammen wollte. Der deutsche Züchter Günter Stach, der sich viel mit dem Verhalten von Tauben beschäftigt, spricht von einer sogenannten Individualdistanz.

Sobald eine Taube einer anderen zu nahe kommt, versucht diese, ihr «Revier» zu verteidigen beziehungsweise ihre Individualdistanz einzufordern. Auch wir Menschen kennen das. Wir merken sehr bald, wenn uns jemand zu nahe kommt. Nur in einer Partnerschaft dulden wir das. Je mehr Tauben also in einem Schlag untergebracht sind, desto höher ist die Belastung, die sich aus der ständigen Einforderung der Individualdistanz ergibt. Das bedeutet für die Tauben Stress und um diesen zu vermeiden, sollten Züchter wie Halter tunlichst darauf achten, den Schlag nicht überzubesetzen.

Die meisten Lebewesen sind «Gewohnheitstiere», da machen auch Tauben keine Ausnahme. Sobald es aber zu Änderungen in ihrem gewohnten Tagesablauf kommt, hat das Einfluss auf den Organismus. Zuchttauben werden in der Regel zweimal täglich gefüttert, und das immer von der gleichen Person. Diese hat dann ausserdem oft die gleiche Kleidung an, damit der Erkennungseffekt noch grösser ist. Mehrmals im Jahr werden die Tauben dann zu Ausstellungen und unter Umständen auch zu Tierbesprechungen mitgenommen, fahren dabei Auto, sitzen in der Transportbox. Dann kommen vielleicht neue Tauben in den Schlag. Und so weiter. Das alles sind Veränderungen im Alltag, die für die Tauben Stress bedeuten können. Was können Züchter und Halter also tun, um diesen für die Tauben zurückzufahren?
Eine Möglichkeit ist es, den Lebensalltag der Tauben so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Nun könnte man sagen, dass das doch gerade gegen das Gewohnheitstier spricht. Kommen Veränderungen nur wenig zum Tragen, so wie es normal ist, stimmt das. Sind aber Veränderungen an der Tagesordnung, kann man diesen Effekt durchaus positiv nutzen. Anders ausgedrückt: Je mehr Veränderungen man kennt, desto weniger macht man sich darüber Gedanken.

Abwechselnd Hemd und Ballons
Aus der Brieftaubenszene kennt man verschiedene Methoden. Da wird zum Beispiel das ausgediente Oberhemd im Taubenschlag aufgehängt. Bei jedem Auffliegen bewegt es sich. Was am Anfang noch für Panik sorgt, ist bald Routine und lässt die Tauben kalt. Eine andere Alternative sind aufgeblasene Luftballons im Taubenschlag. Auch auf das reagieren die Tauben gleich. Sinnvoll kann es dabei sein, diese beiden Methoden abwechselnd einzusetzen. Hat man einen Hund, sollte man ihn ruhig immer wieder mit in den Taubenschlag nehmen. Nach kurzer Zeit haben die Tauben selbst vor so grossen Tieren keine Angst mehr. Kann man seine Tauben im Freiflug halten, kann es sinnvoll sein, das Schlagumfeld immer wieder umzugestalten. Ein Blumentrog, ein Wäscheständer, frei laufende Hühner. Das alles kann am Ende für mehr Entspannung sorgen.

Auch die Kleidung des Züchters soll ruhig wechseln. Es muss nicht immer der weisse Mantel des Preisrichters sein, dem die Taube an der nächsten Ausstellung begegnen wird. Nein, ruhig mal bunt und dann wieder der weisse Mantel. Denn bei Ausstellungen laufen auch nicht alle Besucher gleich herum. Auch hier ist Abwechslung Trumpf. Einmal mit Mütze, einmal ohne und so weiter.

Die Sprache beziehungsweise wie man mit den Tauben spricht, darf ebenfalls gerne variieren. Mal leise, mal laut ... mal einen Radio im Taubenschlag laufen lassen. Das alles schafft Abwechslung. Die Tauben merken schnell, dass all diese Faktoren kein Problem und auch keine Gefahr für sie darstellen. Selbstverständlich ist es ebenfalls von Vorteil, wenn man die Tauben immer wieder für eine kurze Zeit in die Transportkörbe setzt und auf eine Autofahrt mitnimmt. Auch hier gilt der Grundsatz, dass alles, was bekannt ist, keinen Stress bedeutet.

Anfälliger «dank» Stress
Bei vielen anderen Haustieren – vor allem bei Hunden, Katzen und Pferden – wird vom Wesen gesprochen. Bei Tauben geschieht das sehr selten. Dabei ist das Wesen unendlich wichtig. Sogenannt flüchtige Rassen neigen schneller zu Stress, als ruhige. In der Zuchttierauswahl muss das Wesen eine viel grös-?sere Bedeutung finden, als das bisher der Fall war.

Es fällt auf, wie Tauben auf Veränderungen reagieren. Das kann sich unter Umständen in einer schlechten Präsentation bei Ausstellungen zeigen. Unter Umständen aber auch in einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit der Tauben. All dies kann die Folge einer erhöhten Stressbelastung sein. Wie gesagt, tun sich die Züchter schwer, diesen Stress in seinen einzelnen Faktoren klar zu benennen. Ein massiver Spulwurmbefall und die daraus resultierende starke Abmagerung der Tauben ist die logische Folge. Da tun sich die Züchter leichter. Sie sind mit Sicherheit erst am Anfang der Diskussion zum Phänomen «Stress» bei Tauben. Die Zeit wird zeigen, wohin und zu welchen Schlüssen diese führen wird. Vielleicht werden Taubenzüchter in zehn Jahren müde darüber lächeln, wie naiv sie in ihrem derzeitigen Wissen darüber waren.