Geduldig liegt die Katze auf der Lauer. Sie hat sich auf die Alpwiese vorgewagt. Was sie erblickt oder erschnüffelt hat, bleibt den herannahenden Wanderern verborgen. Plötzlich hält das Büsi inne und spitzt die Öhrchen. Es hat die Ausflügler bemerkt. Vollkommen reglos steht es da, während es die Menschen mit grossen, runden Augen anstarrt. Doch als diese sich langsam nähern und versuchen, das Tier anzulocken, springt es blitzschnell davon.

Wären die Spaziergänger Jäger gewesen, hätten sie abdrücken können. Verwilderte Katzen dürfen in der Schweiz geschossen werden. In Artikel 5 des Eidgenössischen Jagdgesetzes über jagdbare Arten und Schonzeiten heisst es: «Während des ganzen Jahres können gejagt werden: Marderhund, Waschbär und verwilderte Hauskatze.» Die im Herbst vom Parlament gutgeheissene revidierte Version des Gesetzes, über die aber erst noch abgestimmt werden muss, fasst sich ein bisschen allgemeiner: «Die Kantone können während des ganzen Jahres den Abschuss folgender Tiere zulassen: nicht einheimische Tierarten; verwilderte Haus- und Nutztiere.»

In jedem Kanton anders
Diese Massnahme gilt vor allem dem Schutz der einheimischen Wildtiere und Ökosysteme. Denn die Natur leidet unter der unnatürlich hohen Katzendichte. Tierschutzorganisationen schätzen, dass in der Schweiz 100 000 bis 300 000 verwilderte Katzen leben. Und diese machen keinen Unterschied zwischen geschützten und nicht geschützten Arten. Sie nehmen eben das, was sie erwischen, und das sind oft diejenigen Arten, die ohnehin schon Probleme haben, wie zum Beispiel bodenbrütende Vögel.

Gemäss den offiziellen Zahlen werden in der Schweiz nur wenige Katzen abgeschossen. Im Kanton Zürich waren es in den letzten zehn Jahren sechs, in Bern bewegte sich die Zahl im gleichen Zeitraum zwischen fünf und 23 Tieren pro Jahr. In anderen Kantonen wie Luzern oder dem Aargau werden keine entsprechenden Daten erhoben. Im Aargau seien es aber «erfahrungsgemäss nur sehr wenige», wie es vonseiten der Abteilung Wald, Jagd und Fischerei heisst. In St. Gallen gab es seit 1999 keinen einzigen Fall.

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Das bestätigt Urs Büchler, Präsident des Schweizerischen Wildhüterverbands und kantonaler Wildhüter von St. Gallen. Für ihn ist klar: «Die Jagd auf Katzen hat in der Praxis kaum Bedeutung.» Konkret wisse er nur von einem einzigen Fall.

Denn eine Katze abzuschiessen ist eine heikle und emotionale Angelegenheit. Ein Jäger, der es tut, wird sich in der Bevölkerung wohl damit bestimmt keine Freunde schaffen. Viel eher riskiert er einen Shitstorm. Ausserdem ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine verwilderte Katze von einer normalen Hauskatze zu unterscheiden. In den Kantonen gibt es dafür unterschiedliche Handhabungen und Auslegungen des Jagdgesetzes. In Zürich zum Beispiel darf eine Katze abgeschossen werden, wenn sie sich mehr als 300 Meter vom letzten Haus entfernt im Wald aufhält und aufgrund ihres Verhaltens und Erscheinungsbildes als verwildert gelten muss.

Im Kanton Luzern muss eine streunende Katze mindestens 50 Meter vom Waldrand entfernt in den Wald hineingedrungen sein, bevor sie geschossen werden darf. Sollte ein Halter bekannt sein, muss dieser zuvor schriftlich verwarnt worden sein. Im Kanton St. Gallen dagegen gibt es keine solchen Präzisierungen. Damit nicht aus Versehen ein zahmes Büsi getötet werde, sähen Wildhüter und Jäger in den meisten Fällen vom Abschuss ab, sagt Büchler.

«Hohe Dunkelziffer»
Anders sieht dies Esther Geisser. «Kein Jäger gibt das zu», sagt die Präsidentin und Gründerin der Tierschutzorganisation NetAP. «Der Jäger ist sich bewusst, dass die Leute Büsi gernhaben. Er hängt das nicht an die grosse Glocke.» Geisser ist daher überzeugt, dass die Dunkelziffer hoch ist. Die angeschossenen Katzen würden wohl oft im Wald sterben oder vom Fuchs geholt. «Ich bin überzeugt, dass viele Tiere geschossen werden.» Sie wisse von Bauern, die Jäger holen, um den Bestand auf dem Hof zu dezimieren, und habe auch schon einen Jäger mit Katzenabschüssen prahlen gehört. Letztere redeten jedoch meistens nicht darüber.

Urs Büchler weist die Vorwürfe zurück. «Diese Befürchtungen entbehren jeglicher Grundlage und sind reine Vermutungen», sagt er. Verschwinde eine Katze, könne es dafür viele Gründe geben. «Es muss nicht gleich heissen, dass sie geschossen worden ist.» Die Jagd gelte oft als Feindbild. Die Jäger seien aber dafür verantwortlich gesetzmässig zu jagen. Die meisten hätten gar kein Interesse an Katzen. Sie jagten lieber Gämsen oder Rehe.

Einig sind sich Büchler und Geisser jedoch darüber, dass es in der Schweiz zu viele herrenlose Katzen gibt. Das ist nicht nur für die Natur ein Problem, sondern auch für die Streunerkatzen selbst. Denn diese leben häufig in grossem Elend. Sie sind verwahrlost, ständig hungrig und oft krank. Ihre Lebenserwartung beträgt nur etwa ein Drittel derjenigen ihrer verhätschelten Artgenossinnen, die in warmen Stuben ihr behütetes Hauskatzendasein geniessen. Und selbst wenn verwilderte Katzen eingefangen und gesund gepflegt werden können, ist es schwer, für sie einen geeigneten Platz zu finden. Da sie nicht von klein auf an Menschen gewöhnt sind, werden sie ihre Scheu kaum mehr ablegen. Nur wenige sind bereit, so eine Katze bei sich aufzunehmen (lesen Sie hier mehr dazu).

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Kastrationspflicht als Lösung
Als einzige Lösung sieht Esther Geisser die Kastrationspflicht. «Damit würde sich das Problem mit den Jahren von selbst lösen», sagt die Tierschützerin, die mit ihrer Organisation laufend Kastrationsaktionen durchführt (siehe «Tierwelt»-Ausgabe Nr. 32 / 2019). Trotzdem gebe es ständig Nachschub durch die unkastrierten Katzen von Privathaltern und Bauernhöfen. Gemäss einer Hochrechnung von NetAP können aus einem einzigen Katzenpaar in zehn Jahren über 80 Millionen neue Katzen hervorgehen.

Mehrere Vorstösse für eine Kastrationspflicht wurden vom Parlament jedoch bereits abgelehnt. Auch eine Chippflicht ist seit der letzten Session vom Tisch. Im Jahr 2011 abgelehnt wurde eine Motion des ehemaligen Genfer CVP-Nationalrats Luc Barthassat, der die Jagd auf verwilderte Katzen verbieten wollte. Geisser findet dafür deutliche Worte: «Es ist eine Schande für unser Land, dass lieber getötet als kastriert wird.» Sie würde es begrüssen, wenn sich auch der Jagdverband aktiv für eine Kastrationspflicht einsetzen würde.  

Begegnen Wildhüter einer Katze, die wie das eingangs erwähnte Büsi beispielsweise auf einer Alp herumwandert, versuche man immer den Bauern zu finden, von dessen Hof das Tier stamme, und fange es mit einer Kastenfalle ein, erklärt Urs Büchler. Der Mensch sei für die Katzen verantwortlich, die Tiere können nichts dafür, dass man sich nicht um sie kümmere. Einen Abschuss sieht er nur als allerletzte Lösung – und für ihn persönlich ist es gar keine. «Mir käme es nicht im Traum in den Sinn, eine Katze abzuschiessen», sagt Büchler. «Die Zeiten, in denen man mit Pulver und Blei alle Probleme löst, sind vorbei.»