Sie leben auf Industriebrachen, in Schrebergärten, in Hinterhöfen, an Siedlungsrändern. Sie sind unterernährt, voller Parasiten, oft krank – ein trauriger Anblick. Die Rede ist von herrenlosen Katzen, von denen es nicht nur in südlichen Ländern Tausende gibt, sondern auch hierzulande. Und sie vermehren sich unkontrolliert. Wenn da nicht Tierschützer wären, die gemeinsam mit ehrenamtlich tätigen Tierärzten immer wieder grössere Kastrationseinsätze durchführen, um die verwilderten Katzenpopulationen einzudämmen. Es sind vor allem zwei Organisationen, die mit Kastrationen von mehreren Tausend Katzen jährlich gegen das Tierelend ankämpfen: der Schweizer Tierschutz STS und NetAP (Network for Animal Protection) – Letztere auch im Ausland.

Bei diesen Aktionen werden die Katzen eingefangen, narkotisiert, kastriert, einer Parasitenbehandlung unterzogen und mit einem Breitbandantibiotikum gegen Infektionen geschützt (siehe auch «Tierwelt» Nr. 6/2015). Um bei einem nächsten Einsatz kastrierte Tiere von unkastrierten von Weitem und auf Anhieb unterscheiden zu können, schneidet der Tierarzt der narkotisierten Katze nach erfolgter Behandlung eine kleine Spitze ihres linken Ohrs ab. Wegen dieses Schnitts ist nun Tomi Tomek von der Tierschutzorganisation «SOS Chats» in Noirague NE auf die Barrikaden gestiegen.

Umstrittener Vergleich
Via Petition zuhanden des Schweizer Parlaments und des Bundesrats will sie «die Verstümmelung der Ohren» bei der Kastration von streunenden Katzen verbieten lassen. Sie beruft sich dabei auf das Kupierverbot bei Hunden und ist der Meinung, dass die Katzen unter dem Eingriff genauso leiden würden wie Hunde. Gemäss Medienberichten haben bereits über 30 000 Personen die Petition unterschrieben.

«Der Vergleich mit dem Kupieren von Hundeohren hinkt an allen Ecken und Enden», sagt Enrico Clavadetscher, praktizierender Tierarzt und medizinischer Leiter bei NetAP. Zum einen gehe es beim Kupieren der Ohren bei den Hunden einzig und allein um eine modebedingte unnötige Veränderung des äusseren Erscheinungsbilds, zum anderen bereite dieser Eingriff dem Hund wirklich sehr grosse Schmerzen. «Und zwar lang anhaltende.»Tatsächlich werden die Ohren des Hundes nach dem Kupieren, um die gewünschte stehende Form hinzukriegen, während mehrerer Wochen in einem Gestell auf dem Kopf eingespannt oder festgeklebt.

«Diese zu Recht verbotene Tortur mit der Ohrmarkierung bei der Katze zu vergleichen, ist absurd», sagt Clavadetscher. «Wir schneiden der Katze unter Narkose ein kleines Spitzli am Ohr weg, das ist schmerzfrei und die Ohrbasis bleibt absolut unangetastet.» Das Tier werde weder in der Funktion des Ohrs noch in seinem Verhalten beeinträchtigt. Auch Tomeks Behauptung, eine Katze könne dadurch verbluten oder sich eine schwere Infektion einfangen, weist der Tierarzt als medizinischen Unsinn ab. An der äusseren Ohrspitze habe es fast keine Blutgefässe. Komme es in Ausnahmefällen doch noch zu einem kleinen Nachbluten, sei der Blutverlust minim und für die Katze nicht gesundheitsgefährdend. Überdies sei die Infektionsgefahr durch das verabreichte Antibiotikum für eine ganze Weile gebannt.

Tomi Tomek hingegen bleibt dabei: «Es muss nach Alternativen zum Ohrschnitt gesucht werden.» Man könne etwa eine Tätowierung am Ohr anbringen oder die Katzen mit einem wasserfesten Stift, wie bei Schafen angewendet, markieren. Man könne sie an einer bestimmten Stelle rasieren oder sie einzeln fotografieren. Das Argument, all diese Methoden seien untauglich, weil die Markierungen entweder nicht permanent oder aus Distanz nicht erkennbar sind, lässt sie nicht gelten: «Ich finde es nicht schlimm, wenn eine Katze eingefangen wird und man feststellt, dass sie bereits kastriert ist. Bei dieser Gelegenheit kann man gleich einen Gesundheitscheck machen und sie bei Bedarf behandeln.»

Doch auch diese Aussage kommt bei Clavadetscher nicht gut an: «Offenbar hat Frau Tomek keine Felderfahrung mit Katzenkastrationen. Die Tiere werden bereits durch das Einfangen grossem Stress ausgesetzt. Das sind verwilderte Katzen, viele ohne jeglichen Bezug zu Menschen. Was glauben Sie, wie gross ihre Angst und Panik ist, wenn sie plötzlich in einem Käfig gefangen sind und wie ihr Puls hochschnellt?» So sei es bei einer wilden Katze im Käfig praktisch unmöglich, eine Tätowierung abzulesen – weil man nicht nahe genug rankomme, die Katze nicht still sitze oder die rasierte Stelle wieder stark behaart sei. «Die Katze müsste dafür also unnötig in Narkose gelegt werden.» Komme hinzu, dass man bei Weibchen manchmal eine gut vernähte Operationsnarbe nach einiger Zeit nicht mehr sehe, «und dann schneidet man das arme Tier nochmals auf, sucht nach den Eierstöcken, bis man merkt, dass da keine mehr sind». Nein, meint Clavadetscher, es gebe einfach keine taugliche Alternative zur Ohrmarkierung, um diese Katzen nachhaltig zu schonen. «Ich habe wirklich lange nach der besten Methode gesucht und verschiedene gegeneinander abgewogen.»

Von Tierärzten gestützte Praxis
Beim Schweizer Tierschutz STS ist man derselben Meinung: «Aus unserer Sicht sind Kastrationsaktionen nur dann wirksam und nachhaltig, wenn auch ein Monitoring in Form einer deutlichen Markierung stattfindet», sagt Martina Schybli, Tierärztin und Leiterin der Fachstelle Heimtiere beim STS, und dafür eigne sich die Ohrmarkierung am besten. «Verglichen mit einer unnötigen respektive vermeidbaren Belastung durch eine Narkose oder sogar eine Operation ist das Abschneiden der Ohrspitze wohl das kleinere Übel für das Tier.» Im Weiteren spare die Organisation, die die Aktion durchführe, viel Zeit und Ressourcen, wenn sie die markierten Katzen sofort ausscheiden könne. «Zeit und Ressourcen, die sie dann für die anderen Tiere einsetzen kann», betont Schybli.

Sie finde die Kastrationseinsätze ja grundsätzlich gut, sagt Tomi Tomek, «für mich ist aber nicht die Zahl der Kastrationen und die Statistik wichtig, sondern die Art, wie sie gemacht werden.» Mit ihrer Forderung nach einem Verbot der Ohrmarkierung, was übrigens eine international anerkannte Markierungsmethode ist, stösst SOS Chats jedoch nicht nur bei den kritisierten Organisationen auf Unverständnis. Auch die Schweizerische Vereinigung der Kleintiermedizin SVK stützt die Aussagen von STS und NetAP, wonach der kleine Schnitt ins Ohr für die Katze weder schmerzhaft noch gefährlich sei. So spricht Caroline Mislin, Tierärztin und Vorstandsmitglied bei der SVK von einem «gesuchten Problem und einem ganz schlimmen Vergleich mit den Ohrkupierungen: Beim Kupieren wird dem Hund das halbe Ohr abgeschnitten, bei den Kastrationen geht es um ein Spitzli.»