Als Karin Breitenstein Kyla zum ersten Mal sieht, weiss sie nichts über deren Vergangenheit. Die Hündin wurde vor rund zwei Jahren auf einem Feld in Rumänien gefunden und kam mit dem Verein Schweizer Auslandtierschutz (VSAT) in die Schweiz. Hier wartete sie in einer Pflegefamilie darauf, adoptiert zu werden. Michel Scholler, Präsident des VSAT, engagiert sich schon seit Jahren für die Strassenhunde in Rumänien. Die Zustände dort, so schildert er, seien grauenhaft: «Tierfänger sind unterwegs und fangen die Hunde mit Gewalt von der Strasse weg. Die Tiere landen dann in Tötungsstationen oder werden über unseriöse Wege ins Ausland vermittelt.» Mit seinem System will der Zürcher dem entgegenwirken. Er fährt mehrmals jährlich selber nach Rumänien und sucht explizit nach gut vermittelbaren Hunden. Dabei achtet er darauf, dass ein Hund freiwillig seine Nähe sucht. Strassenhunde mit einem freundlichen Wesen haben in Rumänien die grösste Chance, gefüttert zu werden, und sind entsprechend gut sozialisiert und verträglich. «Ich würde nie ein Tier in die Schweiz bringen, das offensichtlich nicht vermittelbar ist», erklärt Scholler. Die ausgewählten Tiere bringt der Tierschützer in der Schweiz zur Akklimatisierung in Pflegestellen unter.

In einer solchen Pflegestelle lernten Karin Breitenstein, ihr Mann und ihre beiden Kinder im Teenageralter Kyla kennen. Seit Corona wird bei den Breitensteins mehr im Homeoffice gearbeitet und damit ergab sich überhaupt die Möglichkeit, einen Hund aufzunehmen. Anstatt sich voreilig ein entsprechendes Tier anzuschaffen, reifte der Gedanke während eines ganzen Jahres heran. «Wir hätten während Corona wesentlich mehr als die durchschnittlichen 140 bis 150 Hunde pro Jahr vermitteln können», bestätigt Michel Scholler das Phänomen des Hundewunsches während der Pandemie. «Wir haben dem aber bewusst entgegengesteuert, um nach Corona keine erhöhte Rückgabequote zu haben.» Generell achtet der Verein genau darauf, wohin seine Hunde kommen. Interessenten müssen einen detaillierten Fragebogen ausfüllen, gefolgt von einem Telefongespräch mit einem Mitglied des Vereins. Erst dann besteht die Möglichkeit, den gewünschten Hund in der Pflegestelle zu besuchen.

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Pflegestelle zum Ankommen

Bei Familie Breitenstein hat es beim dritten besuchten Hund gefunkt. «Kyla zeigte sich uns gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen. Auch die Kinder schlossen sie sofort ins Herz», erzählt Karin Breitenstein. Es folgte ein mehrstündiges Aufklärungsgespräch seitens des VSAT sowie ein Besuch des zukünftigen potenziellen Zuhauses der Hündin durch eine Vertreterin des Vereins. So durfte Kyla schlussendlich vor gut eineinhalb Jahren bei den Breitensteins einziehen. «Anfangs war alles entspannt. Kyla hat sich bei uns gut eingelebt», erzählt Karin Breitenstein. Nach einem gemeinsamen Urlaub in Frankreich war auch klar, dass die Hündin die Familie als ihr Rudel akzeptiert hat. Doch nach ein paar Monaten fing sie an, ein Verhalten zu zeigen, das zum Problem wurde. «Kyla begann, uns zu beschützen. Sie bellte jeden an, der zu uns zu Besuch kam, war sofort an der Tür, wenn es klingelte», schildert Karin Breitenstein. «Kyla hatte plötzlich stets das Gefühl, etwas machen zu müssen und alles im Griff zu haben. Das war für sie purer Stress.»

Michel Scholler kennt das Phänomen: «Viele Strassenhunde aus Rumänien haben Gene von Herdenschutz- und Hütehunden und sind auf ein entsprechendes Verhalten quasi genetisch programmiert.» Das bestätigte auch eine Hundetrainerin, die Karin Breitenstein für Kyla engagierte und die sich mit ehemaligen Strassenhunden auskennt. «Für sie war schnell klar, dass Kyla schon aufgrund ihres Aussehens zum Teil Hütehund sein musste», erzählt Breitenstein. Dass sich die Hundehalterin während eines Besuchs mehr auf das Verhalten der Hündin statt auf den Besuch konzentrieren musste, verstärkte die Unsicherheit von Kyla. «Als Rudelführerin ist es nun meine Aufgabe, zu vermitteln, dass die Hündin nichts machen muss, weil ich alles im Griff habe.» Sie hat dafür das Wohnzimmer mit einem Kinderzaun abgegrenzt, sodass Kyla ihr Frauchen bei der Interaktion mit Besuch erstmal beobachten kann, ohne die Möglichkeit, selbst in Aktion zu gehen. Somit lernt die Hündin langsam, dass sie nicht in der Pflicht ist, sich um Fremde zu kümmern, sondern dass Karin Breitenstein dies übernimmt. Mittlerweile beruhigt sich Kyla schnell wieder, wenn Besuch das Haus betritt, und wartet anschliessend entspannt in ihrem Körbchen.

Welpe oder adultes Tier?

Der VSAT macht sowohl auf seiner Website als auch in den Gesprächen mit Tierinteressenten klar, dass man bereit sein muss, sich mit jedem Hund intensiv zu befassen. Welpen seien besonders einfach vermittelbar, so Michel Scholler, jedoch betone er den Vorteil bereits ausgewachsener Hunde. «Die meisten adulten Strassenhunde sind gut sozialisiert, kennen Autos und Menschenmengen und sind wenig schreckhaft, sofern sie keine explizit schlechten Erfahrungen gemacht haben», versichert der Tierschützer. Beim VSAT werden Hundefreunde, die ein Tier adoptieren, engmaschig betreut. Neben der gründlichen Vorkontrolle gebe es vermehrt auch Besuchskontrollen nach der Adoption, erzählt Scholler. Ein Mitglied des Vereins ist zudem eigens für telefonische Nachfragen zuständig. Falls es zwischen dem vermittelten Hund und dem neuen Besitzer doch nicht klappen sollte, muss der Hund in jedem Fall zurück an den Verein gegeben werden, welcher sich um die Weitervermittlung kümmert. Bei rund 150 vermittelten Hunden pro Jahr käme dies aber maximal zwei- bis dreimal vor, inklusive Tiere, die wegen Trennungen oder Todesfällen wieder beim Verein landen.

An eine Rückgabe von Kyla hat Karin Breitenstein nie ernsthaft gedacht. Sie und ihre Familie waren sich von Anfang an bewusst, welche Verantwortung sie tragen und dass sie mit dem Hund arbeiten müssen. Auch wenn die beiden Kinder gerne einen Welpen gehabt hätten, entschied sich die Familie mit Kyla für einen bereits ausgewachsenen Hund. «Ich finde, ein Welpe bedeutet sehr viel Verantwortung. Er ist süss und die Gefahr, dass er verhätschelt wird, ist gross», denkt Karin Breitenstein. Hundeerziehung würde so viel mit Kindererziehung gemeinsam haben, so die Lehrerin. Was man verbockt, muss man oft jahrelang wieder ausbaden. Bei Kyla hätte sie zumindest eine Hündin, die gelehrig ist und ihrer Familie gefallen will. An ihre Vergangenheit in Rumänien erinnern so lediglich noch Verhaltensweisen wie das Zusammenzucken, wenn jemand sich zu Kyla hinunterbeugt. «Schlussendlich werden wir nie erfahren, was sie erlebt hat», sinniert Karin Breitenstein, während sie Kyla liebevoll den Kopf krault. Mit etwas Geduld und Konsequenz wird die Hündin lernen, dass sie sich entspannen kann, weil Frauchen alles im Griff hat. Kyla muss nichts mehr regeln, sondern darf jetzt ganz Familienhund werden.

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Was ist mit Schweizer Hunden?Warum werden so viele Hunde aus dem Ausland zur Adoption importiert? Warten in den Schweizer Tierheimen nicht genug Hunde auf ein Zuhause? Auf diese Fragen hat Michel Scholler vom Verein Schweizer Auslandtierschutz eine überraschende Antwort: «Tatsächlich werden gar nicht so viele Hunde in den Schweizer Tierheimen abgegeben.» Die meisten Hunde dort seien Feriengäste, einige wenige seien Abgabetiere. Béatrice Kirn, Co-Geschäftsleiterin des grössten Schweizer Tierheims, bestätigt diese Einschätzung: «Das Tierheim an der Birs ist nicht überfüllt und wir haben eine gute Vermittlungsrate.» Allerdings bemängelt sie, dass viele Halter einen Welpen wollen und daher immer wieder auch auf unseriöse «Vermehrer» aus dem Ausland hereinfallen würden. Leider werden auch ab und zu ehemalige Strassenhunde im Tierheim an der Birs abgegeben, weil die Halter überfordert sind oder es schlicht unterschätzt haben, wie intensiv mit dem Vierbeiner gearbeitet werden muss.