Jedes Jahr stellt der Frühling Pferde vor eine riesige Herausforderung: Sie haben oft monatelang kein frisches Grünfutter genossen und sollen nun unter dem Reiter am frischen Gras am Wegrand vorbeigehen. «In dieser Jahreszeit ist der Reizwert des Futters und damit auch die Motivation des Pferdes, sich das Futter zu beschaffen, sehr hoch», sagt Zoe Sanigar Zollinger, pferdepsychologische Verhaltenstherapeutin und Centered-Riding-Lehrerin der Stufe II. «Das ist keine Unart, sondern ein biologisches Überlebensprogramm.» 

Doch so verständlich der Appetit auf das verlockende Gras auch ist, nachgeben sollte man ihm nicht. Denn hat der Vierbeiner erst einmal gelernt, dass er sich unterwegs am Grasbuffet bedienen kann, ist ihm das nur noch schwer wieder abzugewöhnen. «Ich habe schon Pferde gesehen, die im Galopp auf der Wiese eine Vollbremsung machen, weil sie in diesem Moment lieber fressen wollen», berichtet die Ausbilderin. Alleine aus Sicherheitsgründen würde sie das Grasfressen deshalb grundsätzlich nicht gestatten, wenn sie im Sattel sitze. Vorbeugend hilft eine möglichst artgerechte Haltung. Hat das Pferd rund um die Uhr Zugang zu gutem Raufutter, ist die Versuchung naturgemäss kleiner, als wenn der Magen leer ist.

Der Reiter muss aufmerksam sein 
Die Pferdebesitzer können sogar noch einen Schritt weiter gehen. «Ich empfehle zudem einen klaren ‹Arbeitsvertrag› mit dem Pferd, der seine Bedürfnisse berücksichtigt, aber auch Gehorsam einfordert», rät Sanigar Zollinger. Umsetzen könne man so eine Abmachung allerdings erst, wenn Reiter und Pferd die nötige Grundausbildung absolviert haben und der Vierbeiner sicher an den Hilfen steht. 

Ausserdem kann auch das gehorsamste Pferd nur die Reiterhilfen umsetzen, die es bekommt. Und genau daran hapert es im Gelände oftmals: Man schwatzt mit den Reiterkollegen oder träumt vor sich hin und schon ist das Pferdemaul im Gras versenkt. Verhindern lässt sich eine Grasfressattacke laut Sanigar Zollinger am besten, wenn man ständig so aufmerksam ist, dass man schon bei den ersten Anzeichen reagieren kann. «Die Reiterhand sollte in jeder Zügellänge sanft und nachgiebig sein. Drückt das Pferd jedoch dagegen, weil es den Kopf zum Fressen runternehmen will, ist die Tür zu.» 

Am Zügel zerren ist tabu
Das heisst allerdings nicht, dass das Zerren am Zügel erlaubt ist. Das kann nämlich im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Pferd das Vertrauen ins Gebiss verliert. Zudem ist es, sobald der Kopf einmal am Boden ist, sowieso wenig effektiv. Besser: Den «Motor» von hinten starten. Die richtige Korrektur sei ein sofortiger Einsatz von der Gerte auf der Hinterhand oder ein beherztes Klopfen am Schenkel, sagt die Expertin. Man könne dem Pferd mit einem scharfen «Nein» mitteilen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist. Wenn es wieder auf Kurs ist, sollte aber auch das Lob nicht zu spärlich ausfallen.

Im von der Fachfrau angesprochenen Arbeitsvertrag muss nicht nur das Pferd, sondern auch der Reiter bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Das bedeutet zum Beispiel bei Ritten, die länger als zwei Stunden dauern, dass das Pferd auch Trink- und Fresspausen einlegen darf, um seine gewohnheitsbedingten Bedürfnisse zu befriedigen. «Dazu sollte man absteigen und dem Pferd mit einem Handzeichen signalisieren, dass es jetzt fressen darf – Pferde begreifen das erfahrungsgemäss sehr schnell», sagt Zoe Sanigar Zollinger. «Denn Pferde schätzen so eine Pause sehr und sind danach unter dem Sattel wieder hoch motiviert.»