Nelson hatte friedlich geschlummert, bevor er plötzlich aufsprang, wild herumlief und schliesslich rücklings im Schrank landete, wobei sich seine Blase entleerte. Dort blieb der Kater einen Moment liegen, bevor er sich wieder aufrappelte und mehr oder weniger zur normalen Tagesordnung überging. «Meine erste Reaktion war, die haben unsere Katze vergiftet», erinnert sich Dora Lienhard aus Schafisheim AG an diesen ersten richtigen Anfall. Doch die Tierklinik belehrte sie bald eines Besseren. Die Diagnose lautete Epilepsie.

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Das Tückische daran ist, man weiss nicht, um welche Form es sich handelt. Denn Epilepsie kann zum einen eine chronische Krankheit sein – genannt primäre Epilepsie, zu der man weder die Ursache noch eine Heilmethode kennt, die aber hauptsächlich bei Jungtieren erstmals auftritt. Zum anderen gibt es die sekundäre Epilepsie, in der Katzenwelt mit über 60 Prozent die verbreitetste Variante. Hierbei handelt es sich um ein Symptom, hervorgerufen durch eine bestimmte Ursache wie etwa eine Vergiftung oder Gehirnerkrankung. Stress oder Schockerlebnisse können bei beiden Varianten Anfälle begünstigen, die in unregelmässigen Abständen auftreten. Es können Wochen dazwischenliegen oder Monate, mitunter aber auch nur wenige Stunden.

Merkwürdiges Benehmen im Vorfeld
Da bei einem Anfall die Funktionen der Nervenbahnen im Gehirn vorübergehend gestört sind, liegen die Katzen typischerweise zuerst speichelnd und mit weit aufgerissenen Augen da, schmatzen eventuell und zittern und reagieren oft weder auf Geräusche noch auf Berührungen. Dann springen sie auf einmal auf, ängstlich oder aggressiv, und rennen unkoordiniert herum, wobei die Kontrolle über einzelne Körperteile oder den ganzen Körper ausgeschaltet ist. Bereits im Vorfeld wirken sie oft ruhelos oder verkriechen sich – manchmal nur sehr kurz und für den Halter kaum wahrnehmbar. Manchmal allerdings auch für mehrere Stunden, sodass man ahnen kann, was folgt.

«Betroffene Halter stehen dem anschliessenden Anfall oft ratlos gegenüber, dabei können auch sie etwas tun», sagt Tim Bley, der behandelnde Arzt aus der Tierklinik Aarau West: «Das krampfende Tier sollte an einen Ort gebracht werden, wo es sich nicht verletzen, zum Beispiel keine Treppe herunterfallen kann. Und ruhiges Einreden und Streicheln scheint manche Patienten schneller zu beruhigen.» Falls man ein krampflösendes Mittel zur Hand hat, kann man versuchen, es der Katze zu verabreichen, sollte jedoch auch auf seine eigene Sicherheit bedacht sein.

«Manche Patienten sind während oder nach einem Anfall verhaltensverändert und könnten beissen und kratzen», warnt der Fachmann. Dauert das Spektakel länger als ein paar Minuten, spricht man von einem «Status epilepticus», bei dem nur noch ein Tierarzt helfen kann. Dann müssen die betroffenen Katzen krampflindernde Therapien erhalten. Lassen sich die Krämpfe nicht mit herkömmlichen Mitteln kontrollieren, werden sie zudem in einen stundenlangen künstlichen Tiefschlaf versetzt, damit sich Gehirn und Organismus erholen können.

Die Tatsache, dass der zweijährige Nelson ein Maine-Coon-Bengal-Mix ist, gibt in diesem Fall keinen Aufschluss über die Krankheit, denn anders als bei Hunden gelten spezielle Katzenrassen nicht als gefährdet, um an Epilepsie zu erkranken. Tierarzt Tim Bley tippt aufgrund des Behandlungserfolgs allerdings auf die chronische Variante. Denn seit der Kater zweimal täglich Phenobarbital verarbreicht bekommt, ein gegen Epilepsie und epileptische Krampfanfälle sowie als starkes Beruhigungsmittel eingesetzter Wirkstoff, geht es ihm besser.

Schock durch 1.-August - Knaller
Doch auch hier scheint weniger mehr zu sein, wie seine Halterin Dora Lienhard feststellen musste. Denn als sie nach einigen Wochen merkte, dass Nelson durch das Medikament ein bisschen zu ruhig wurde und «nicht mehr er selbst war», reduzierte sie in Absprache mit ihrem Tierarzt die Dosis und half ihm damit, wieder zu sich selbst zu finden. Doch Bley beruhigt; solche anfänglichen Nebenwirkungen seien bekannt.

Bei der zweiten Variante, der sekundären Epilepsie, kommt es oft nach Schockerlebnissen zu Anfällen. Bei Katze India aus Sisseln AG beispielsweise passierte es am 2. August, einen Tag nach dem Feuerwerk zum Nationalfeiertag. «Am Morgen nach der Knallerei rannte meine Norwegische Waldkatze India total verstört, fauchend, knurrend und schreiend durch das Küchenfenster nach draussen, überschlug sich mehrmals, bis sie am Boden zitternd und unkontrolliert mit den Pfoten paddelte und Urin verlor. Ihr Blick war starr und sie speichelte», beschreibt die Halterin Véronique Hufschmid die Situation und tippte direkt auf einen epileptischen Anfall. Ihr Tierarzt bestätigte später den Verdacht.

Frühzeitige Therapie hilft
Anderes Jahr, anderes Tier, gleicher Fall: Auch Hufschmids zweite Katze, ein Norwegerkater namens Marius, vertrug die feierliche Knallerei nicht und erlitt einen Anfall. Er rannte verstört durch das Haus und lag schliesslich strampelnd und zuckend am Boden, ebenfalls speichelnd und urinierend. Beide Male war es nach drei Minuten vorbei und beide Katzen haben die gleiche Vorgeschichte. Bevor sie nach Sisseln kamen, lebten sie in der Nähe eines Schiessstandes.

Im Gegensatz zu Familie Lienhard kann Hufschmid medizinisch wenig gegen die Anfälle ausrichten. Präventiv gibt sie den Tieren am 1. August und zu Silvester aber nun immer etwas Homöopathisches zur Beruhigung. Denn bei so einem Anfall können nicht nur Tier und Mensch durch herumliegende Gegenstände, Beiss-Attacken oder Ähnliches verletzt werden. Die Anfälle verursachen bleibende Gehirnschäden. Daher wurden kranke Katzen früher als hoffnungslose Fälle betrachtet und rasch eingeschläfert. Mittlerweile weiss man jedoch, dass sie bei frühzeitiger Therapie gute Chancen auf ein normales Leben haben.