Das Thema Qualzucht läuft in der Schweiz auf Hochtouren. Die meisten der rund 350 Hunderassen sind heute von rassenspezifischen Krankheiten betroffen. «Die Liste der Erkrankungen ist lang», sagt Irene Sommerfeld-Stur, ehemalige Professorin für kynologische Genetik in Wien. Neurologische Erkrankungen, Augen- und Herzkrankheiten gehören heute genauso zu den kaninen Zivilisationskrankheiten wie orthopädische Schäden. 

«Bei fast allen grosswüchsigen Hunderassen sind degenerative Gelenkserkrankungen häufig», sagt Sommerfeld. «Bei Dobermann und Dogge sieht man überdies sehr oft eine krankhafte Erweiterung des Herzmuskels, die zum plötzlichen Tod in sehr jungem Alter führen kann.» Bei kleinen Rassen kommt es mittlerweile oft vor, dass ihre Kniescheiben herausspringen, auch Patella-Luxation genannt. Viele Rassen haben mit Fehlstellungen des Gebisses und Zahnunterzahl zu kämpfen oder wie der Chihuahua mit einer offenen Fontanelle – einem Loch im Kopf quasi.

Kindchen-Schema mit Kulleraugen
Manche Rassen trifft es besonders hart. Die sogenannten Brachyzephalie-Rassen wie Bulldogge, Boston Terrier, Französische Bulldogge und Mops sind gleich für mehrere Leiden disponiert: Orthopädische Erkrankungen, Patella- und Luftröhrenprobleme, ­Augen- und Herzkrankheiten, Gebissfehlstellungen, Wirbelabnormitäten. Zudem haben die Hunde aufgrund ihrer Kurzköpfigkeit meist einen dramatischen Alltag: Sie schnarchen, haben Erstickungsanfälle, leiden unter Atemnot und kommen weder mit Hitze noch viel Bewegung zurecht. Schon nach einem kurzen Spaziergang japst der Hund jämmerlich nach Luft. Doch sind gerade diese Rassen populär. Zum einen entsprechen sie Konrad Lorenz’ Kindchen-Schema (kindliche Proportionen). Zum anderen scheint ihr mässiges Temperament für ein Leben in der Stadtwohnung ideal. «Dabei ist das ruhige Wesen in den meisten Fällen eine Folge des ständigen Sauerstoffmangels», warnt Sommerfeld-Stur. 

In das Schema «klein mit grossen Kulleraugen» fallen auch Teacup-Hunde. Die Miniaturversionen zwergwüchsiger Rassen sind so winzig, dass sie in Tassen passen. Nicht ohne Folge: Die Knochen werden dünner, der Schädelknochen ist teilweise nur papierdünn. «Ein geringfügiges Trauma kann zum Bruch mit entsprechenden Folgen führen», sagt die Genetikerin. Selbst die Körpertemperatur konstant zu halten, kann bei den Winzlingen zum tödlichen Problem werden. Daher ist das Züchten mit Hunden von weniger als 1500 Gramm Körpergewicht verboten. Dennoch gibt es sie. 

Ein Zuchtkonzept schlägt zurück 
Seit 2008 ist Qualzucht in der Schweiz verboten. Die entsprechenden Paragrafen sind eindeutig. Trotzdem gestaltet sich die Praxis schwierig. «Es gibt keine messbare Grenze wie bei Geschwindigkeitsübertretungen. Es ist daher immer eine Einzelfallentscheidung», sagt Sommerfeld-Stur. Für sie ist klar: Moderner Rassenwahn und Rassehundezucht haben die natürliche Selektion verdrängt. «Heute gibt es nur noch wenige Hunderassen, die unter natürlichen Selek­tionsbedingungen Überlebenschancen hätten.» 

Laut Sommerfeld-Stur ist dafür das gängige Zuchtkonzept der Inzucht verantwortlich. Als Mitte des 19. Jahrhunderts anstelle des Nutzens das Aussehen der Hunde in den Vordergrund rückte, begann man nach Gesichtspunkten der damals populären Eugenik zu züchten. Der Anteil positiver Erbanlagen sollte erhöht, der von negativen verringert werden. «Doch ist die Folge, dass auch krankhafte Genkombinationen vermehrt auftreten, unter bestimmten Umständen gar explosionsartig.» 

Die Bekämpfung der Gendefekte indes dauert lange. Zwar hat man vor Kurzem ein für Kurznasigkeit verantwortliches Gen und auch die Genmutation für die Bandscheibenkrankheit IVDD bestimmen können. Doch lassen sich die meisten Gendefekte nicht in einem Jahrzehnt wegzüchten. «Im Idealfall kann man einen Defekt in ein bis zwei Generationen aus der Population eliminieren», doch dies sei selten, so Sommerfeld-Stur. «Im schlechtesten Fall ist es überhaupt nicht möglich.» 

Dank der rasanten Entwicklung in der Tiermedizin gibt es für viele Erkrankungen bereits Screening-Verfahren. Fällt einer der rassenspezifischen vorgeschriebenen Tests positiv aus, wird der Hund von dem entsprechenden Rassenclub von der Zucht ausgeschlossen. Bei der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft (SKG), dem Dachverband der Schweizer Rassehundevereine, gilt zudem seit mehreren Jahren die Devise «fit for function». 

Kollidiert die Gesundheit allerdings mit dem Rassenstandard, wird es schwierig. So laufen Rassen mit hohem Weissanteil im Fell Gefahr, taub zur Welt zu kommen. «Den Standard kann aber nur das Ursprungsland der Rasse ändern», sagt Veterinärmedizinerin Yvonne Jaussi, die bei der SKG für Zuchtfragen zuständig ist. 

Illegaler Import als Hauptgrund
Die Richtung, in welche sich eine Rasse entwickelt, wird vor allem von Formwertrichtern bestimmt. «Die Verantwortung der Rassen-richter ist immens hoch, sowohl im Ausstellungsring als auch durch Zuchtzulassungen», sagt Barbara Müller, Präsidentin des SKG-Ausschusses für Ausstellungen und Ausstellungsrichter. Die Ausbildung der SKG-Richter habe daher hohes Niveau. Neben der rassenspezifischen Ausbildung werden sie auch in Anatomie, Genetik, Verhalten und Ethik ausgebildet und jährlich fortgebildet.  

Trotz allem: Auch in der Hundezucht reguliert die Nachfrage das Angebot. «Illegale Importe und unkontrollierte Hinterhofzuchten sind daher ein grosses Problem», verweist Sommerfeld-Stur auf das mögliche Kernproblem der Qualzucht. «Sie lassen effiziente Massnahmen zur Bekämpfung von Qualzucht mehr oder weniger ins Leere laufen.» Vergleicht man die Zahlen der Datenbank Amicus mit denen der SKG, so wird deutlich: Je nach Rasse stammen teilweise über 90 Prozent der Welpen nicht von Schweizer Züchtern. 

Wie der «Vertrieb» aus anderen Quellen läuft, weiss Lucia Oeschger von «Vier Pfoten Schweiz». Die Stiftung kämpft seit Jahren gegen den illegalen Welpenhandel. «Sogenannte Hundevermehrer sind in der Schweiz die Ausnahme, meist handelt es sich um ein organisiertes internationales Netzwerk.» Die Welpen werden unter entsetzlichen Zuständen in osteuropäischen Ländern produziert und im Alter von nur drei oder vier Wochen von Zwischenhändlern auf Onlineplattformen als «in liebevollem Zuhause aufgewachsen» angeboten. «Um Einfuhrbestimmungen wie Impfungen und Zollformalitäten zu umgehen, werden die Welpen häufig unter fadenscheinigen Ausreden grenznah im EU-Gebiet übergeben.» Einfuhrprobleme hat, wenn, dann der neue Besitzer. Der Verkäufer hat sich abgesichert: Seine Identität ist nicht verfolgbar, rechtlichen Konsequenzen kann er somit entgehen.

Was sagt das Gesetz?
Aus diesem Grund lanciert der Schweizer Verband der Kleintierärzte jetzt eine Kam­pagne gegen Qualzucht. Durch Aufklärung sollen potenzielle Hundekäufer über das Leid solcher Hunde informiert werden. Das Qualzuchtverbot ist in Artikel 10 des Schweizer Tierschutzgesetzes und Artikel 25 bis 30 der Tierschutzverordnung geregelt. Seit 2015 gilt zudem die Amtsverordnung des BLV zum Tierschutz beim Züchten. «Das Qualzuchtverbot ist stark präzisiert», sagt Nora Flückiger von der «Stiftung für das Tier im Recht». Dem Gesetz nach muss Züchten darauf ausgerichtet sein, gesunde Tiere zu erhalten. Weder dürfen sie Merkmale oder Eigenschaften bekommen, die gegen ihre Würde sprechen, noch solche, die Schmerzen, Leiden, Schäden oder tief greifende Eingriffe in ihr Erscheinungsbild oder ihre Fähigkeiten bedeuten würden. 

Hier unterscheidet das Gesetz zwischen verschiedenen Kategorien. Gänzlich verboten ist die Verpaarung von Hunden, wenn ihre Nachkommen zum Beispiel blind oder taub sein könnten oder Schwergeburten zu erwarten sind. 

Die Stiftung für das Tier im Recht hält die gesetzliche Regelung denn auch zumindest im strafrechtlichen Sinne für ausreichend. Genügen tue dies trotzdem nicht. «Es fehlt in erster Linie an der Umsetzung durch die Strafverfolgungsbehörden», sagt Flückiger. «Es bedarf weiterer, präventiv wirkender rechtlicher Regelungen im verwaltungsrechtlichen Bereich, einer Inpflichtnahme und Kontrolle der Verbände und auf strafrechtlicher Ebene eines Einfuhr- und Ausstellungsverbots für Qualzuchten.»

Selbige Meinung vertritt auch die Schweizerische Kynologische Gesellschaft. Mit regelmässigen Weiterbildungsveranstaltungen für Formwertrichter, Züchter und Zuchtwarte wird seit Jahren über die Problematik der übertriebenen Rassenmerkmale informiert. Alle Rassen würden von den Rassenklubs auf bekannte, rassenspezifische Erbkrankheiten untersucht, betroffene Hunde von der Zucht ausgeschlossen, erklärt Yvonne Jaussi, die zudem eine Regelung für Tierärzte fordert. Bei chirurgischen Eingriffen aufgrund von solchen Rassenmerkmalen müsste der Stammbaum der Tiere kontrolliert und der Eingriff gemeldet werden. «Nur so haben wir die Chance, einen operierten Hund von der Zucht auszuschliessen.»