Vor einiger Zeit kursierte ein Video im Internet, das zeigte, was eine junge Halterin ihren beiden Heimtieren im Zimmer beigebracht hatte. Die Stars sind zwei süsse Heimtierratten, eine dunkel und eine hell gefärbt, die offenkundig lebhaft und interessiert bei verschiedenen Tricks mitmachen. Eine zupft auf ein Signal hin ein Kleenex aus der Box und bringt das Stück hüpfend der Halterin – wobei der kleine Vierbeiner aufpassen muss, nicht auf das Papiertuch zu treten. Ein Hindernisparcours wird absolviert, oder dann öffnet eines der Rättchen ein ausgelegtes Portemonnaie, ergreift die Banknote darin und bringt sie der jungen Frau entgegen. 

Hier besagtes Video:

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Natürlich erfordern solche Tricks viel Training und Geduld, einen sorgsamen und zeit­intensiven Umgang mit den Tieren. Es ist auch nicht garantiert, dass alle Individuen unter den Heimtierratten bei so etwas mitmachen würden. Doch so oder so geht eine grosse Faszination von diesen Nagern aus. Sie begeistern mit ihrem erstaunlichen Sozialleben, das auch Hilfsbereitschaft gegenüber den Gefährten einschliesst, und mit ihrer Lernfähigkeit, die über beigebrachte Tricks hinausgeht. Dabei ist es noch nicht so lange her, als Ratten mehr schockierten als Freude bereiteten und kaum als liebenswerte Heimtiere bekannt waren.

Priska Staud, Vizepräsidentin des Clubs der Rattenfreunde Schweiz, hatte die Faszination für die Ratten schon vor 20 Jahren erfasst, als diese noch ein Lieblingstier der Punks und Obdachlosen waren und wohl mehrheitlich als unsaubere Krankheitsüberträger wahrgenommen wurden. Damals war es üblich, dass Punks ihre Ratte frei auf der Schulter herumtrugen, um das Establishment vor den Kopf zu stossen. Der eine oder andere suchte mit Ratte auch gerne einmal ein Einkaufszentrum auf, was in dem Lebensmittelladen sicher wenig Freude bereitete. Zu Hause mussten viele Ratten mit einem kleinen Käfig vorliebnehmen, der kaum eine Einrichtung aufwies, und auf die Gesellschaft von Artgenossen verzichten. Über ihre Lebensweise und ihre Bedürfnisse wusste man recht wenig. «Seither hat sich enorm viel geändert», sagt Priska Staud. Ratten sind aus dem Strassenbild weitestgehend verschwunden und die Obdachlosen führen heute eher Hunde als Gefährten mit sich. 

Die Pflege ist anspruchsvoll
Als Haustiere sind die Ratten derweil «salonfähig geworden». Wenn Priska Staud und ihre Kolleginnen die Nager etwa an einer Messe in ihrem Gehege zeigen, finden viele sie herzig. Nach dem Film «Ratatouille» hatte die Nachfrage nach Heimtierratten unter Kindern sogar so zugenommen, dass die Rattenschützerinnen des Clubs vor unüberlegten Heimtierkäufen warnen mussten. Zur Freude von Priska Staud hat sich aber vor allem die Haltung und Unterbringung der Ratten in den vergangenen zwanzig Jahren stark verändert und verbessert. Im Tierschutzgesetz sind nun Mindestmasse für Rattenunterkünfte festgelegt, zudem ist die Einzelhaltung der geselligen Nager verboten. 

Die Pflege von Ratten ist durchwegs anspruchsvoll, erfordert einiges an Wissen über die Tiere und sehr viel Zeit. Auch können sich die Ratten – ebenso wie Mäuse – sehr schnell sehr stark vermehren, was bei mangelnder Kontrolle nur zu oft zu Vermittlungsnotfällen führt. Immer wieder ist der Club der Rattenfreunde mit solchen Fällen konfrontiert und muss dann Plätze für die Tiere finden. Ratten, welche die Clubmitglieder selber übernommen haben und pflegen, leben in grosszügig ausgestalteten «Rattenschränken» mit mehreren Etagen, Nischen und Rückzugsmöglichkeiten für die weitgehend dämmerungsaktiven Tiere. Eine solche Unterbringung erscheint besonders passend, denn Ratten schätzen dreidimensionale Raumstrukturen ohne Zugluft. Zudem erhalten sie artgleiche Gesellschaft, Freilauf, ein gutes Nahrungsangebot, tiermedizinische Betreuung und reichlich Einrichtungsgegenstände zur Beschäftigung. 

Die als Heimtiere gepflegten Farbratten werden in verschiedenen Fellfarben von schwarz, gescheckt, fahlbraun bis weiss gezüchtet. Sie gehen auf einstige Labortiere zurück und sind domestiziert, da sie seit Generationen in Menschenobhut nachgezogen werden und sich in einigen Eigenschaften an diese neuen Lebensbedingungen angepasst haben. Ihre Ursprungsform war die Wanderratte, welche heute noch verbreitet in der Schweiz vorkommt und beispielsweise nahezu unbemerkt in den Kanalisationssystemen lebt. Entwichene Farbratten können sich mit den frei lebenden Wanderratten kreuzen, wobei man laut Priska Staud merken würde, wenn ein farblich auffälliges Exemplar in freier Natur wilden Ursprungs ist. Es wäre extrem scheu. 

Der Tempel der Ratten
Während Wanderratten fast überall in Mitteleuropa vorkommen, sind die etwas kleineren, zierlicheren Hausratten nahezu verschwunden. Es sind nur eine Handvoll Beobachtungen aus der Schweiz registriert worden, die meisten davon aus dem Süden des Landes. Domestiziert wurden die Hausratten ebenfalls nie und in Gehegen halten kann man diese Wildtiere nicht. «Das wäre schlichtweg unmöglich, sie vernagen einem das Gehege, wollen raus», sagt die Rattenexpertin. Als Kulturfolgerin lebte die Hausratte indes seit Jahrhunderten in den Gebäuden der Menschen, wo sie als klettertüchtiges Tier vor allem die oberen Bereiche wie den Dachstuhl besiedelte – eine Art von Lebensraum, der heute frei lebenden Nagern weniger zugänglich ist. Die ursprünglich indischen Hausratten waren schon zu Zeiten der Römer als «Schiffsratten» nach Europa gelangt. 

20 Jahre Club der Rattenfreunde Schweiz
Im Jahr 2015 sind es 20 Jahre her, seit der Club der Rattenfreunde Schweiz gegründet wurde. Seit seinen Anfangszeiten hat der spezialisierte Tierschutzverein rund 4000 Ratten aus Notfällen an gute Plätze vermittelt, eine Broschüre zur optimalen Rattenhaltung herausgegeben und weitere wertvolle Informationsarbeit geleistet.
www.rattenclub.ch

In Indien, wo Hausratten fast allgegenwärtig sind und in ihrer Vielzahl heute noch grössere Probleme verursachen, werden sie zum Teil verehrt. Der Karni-Mata-Tempel in der Stadt Deshnoke in Rajasthan ist auch als «Tempel der Ratten» bekannt. Dieser 600 Jahre alte hinduistische Tempel beherbergt Tausende frei umherlaufender Hausratten, die von den Gläubigen verehrt und gefüttert werden. 

Er ist Karni Mata gewidmet, einer berühmten Mystikerin, die im 14. bis 15. Jahrhundert gelebt hatte und als Reinkarnation der Göttin Durga angesehen wird. Dem hinduistischen Glauben zufolge leben die Seelen ihrer Anhänger in diesen heiligen Ratten, und es wird angenommen, dass sie im nächsten Leben als Sadhus (Heilige) wiedergeboren werden. Besonderen Segen bringt es, von Lebensmitteln zu essen, die von den Ratten berührt worden waren, was Gläubige denn auch tun. 

Noch mehr Ratten-Tricks gibt es in diesem Video:

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