Die neun Meerschweinchen im Tischgehege sind im Schlaraffenland. Acht runzelige Händepaare bieten ihnen Leckerbissen an, Salat, Gurkenstücke, Petersilie. Besonders beliebt scheint das Futter von Herrn Cettuzzi zu sein. In jeder Hand hält er ein Salatblatt, an jedem knabbert eines der Tierchen, von ihm aufmerksam beobachtet. Spüren sie, dass er früher selber Meerschweinchen besass? 

Bis zu sechs dieser kleinen Nager hielt er einst, als er noch in seiner eigenen Wohnung lebte. Sie sind lange vor seinem Umzug ins Alterswohnheim Enge in Zürich gestorben. Nun hat er das Glück, dass sein Heim Besuch von Meerschweinchen erhält. Das Sprechen und Bewegen fällt ihm schwer, worunter auch soziale Kontakte leiden. Umso willkommener sind die Begegnungen mit den Meerschweinchen, die ihn auch ohne Worte verstehen. 

Im Gegensatz zu ihm hat Frau Müller, die am anderen Ende des Tisches sitzt, nie zuvor ein Meerschweinchen von nahe gesehen. Als Barbara Hamburger, Fachfrau für tiergestützte Interventionen und Besitzerin der Tiere, dies erfährt, holt sie ein Stoffkörbchen, setzt das zutraulichste der neun Meerschweinchen hinein und gibt es der alten Frau auf den Schoss. Das gehe nicht mit jedem Meerschweinchen, erklärt sie. Denn im Grunde seien diese Nager gar nicht die Kuscheltiere, als die sie gemeinhin gelten. Kommt von oben eine Hand, um es zu streicheln, vermutet das Meerschweinchen instinktiv einen Greifvogel. 

Bevor sie ihre Tiere auf Besuch ins Altersheim bringt, trainiert Barbara Hamburger sie deshalb zusammen mit ihrer Assistentin, der Tierpsychologin Christa Schaller. Die Nager wohnen in zwei Gehegen mitten in der Stube der beiden Frauen – je mehr Betrieb, desto besser vorbereitet sind sie auf die Tierbesuche. Zum Tischgehege, das sie in den Heimen verwenden, gehören Rückzugsmöglichkeiten wie Holzröhren. «Wichtig ist, die Tiere keinem Zwang auszusetzen», sagt Hamburger.

Sie ist ursprünglich Physiotherapeutin, hat ihre Ausbildung für tiergestützte Interventionen am Institut für angewandte Ethologie und Tierpsychologie des bekannten Biologen Dennis Turner gemacht. Gemeinsam mit Christa Schaller fährt sie jede Woche mit den Meerschweinchen und den Hühnern (die an diesem Nachmittag noch in ihren Käfigen warten) zu Besuch in ein Heim. «Für 2018 sind wir bereits komplett ausgebucht», erzählt sie. «Zum Teil machen wir nun sogar zwei Besuche pro Woche, um all die Anfragen abdecken zu können.»

Vom Betreuten zum Betreuer Zum Alterswohnheim Enge fahren sie viermal jährlich. Fanny Andermatt, die als Mitarbeiterin Betreuung des Heims für die Tierbesuche verantwortlich ist, wählt für die Begegnungen jeweils acht Bewohnerinnen und Bewohner aus, denen aufgrund körperlicher oder kognitiver Einschränkungen viele andere Aktivitäten nicht mehr möglich sind. Bei dieser Gruppengrösse sind ungefähr gleich viele Tiere auf dem Tisch, wie Senioren rundherum sitzen. Und Barbara Hamburger zeigt, dass sie nicht nur ein Händchen für Tiere hat, sondern auch für Menschen; sie plaudert, nennt alle beim Namen. 

Vom Betreuten zum Betreuer
Zum Alterswohnheim Enge fahren sie viermal jährlich. Fanny Andermatt, die als Mitarbeiterin Betreuung des Heims für die Tierbesuche verantwortlich ist, wählt für die Begegnungen jeweils acht Bewohnerinnen und Bewohner aus, denen aufgrund körperlicher oder kognitiver Einschränkungen viele andere Aktivitäten nicht mehr möglich sind. Bei dieser Gruppengrösse sind ungefähr gleich viele Tiere auf dem Tisch, wie Senioren rundherum sitzen. Und Barbara Hamburger zeigt, dass sie nicht nur ein Händchen für Tiere hat, sondern auch für Menschen; sie plaudert, nennt alle beim Namen. 

«Der reisst richtig», kommentiert Frau Seitz das Verhalten eines Meerschweinchens, das sich an ihrem Gurkenstück gütlich tut. «Er zieht und zieht, bis ich es nicht mehr halten kann.» Noch nie habe sie die Frau so viel sprechen gesehen, sagt Betreuerin Fanny Andermatt. Der Kontakt zu den Tieren zählt nicht als Therapie, sondern gilt als Aktivierungsprogramm, und diese Aktivierung klappt bei Frau Seitz offensichtlich hervorragend. 

«Mit den Tieren schlüpfen die Menschen in eine andere Rolle», sagt Barbara Hamburger. «Normalerweise werden sie betreut und gepflegt. Nun sind sie diejenigen, die anderen guttun.» Quirlig geht sie zwischen den alten Menschen umher, erzählt, wie das eine Meerschweinchen seine Halbbrüder nach deren Geburt abgeschleckt habe, versucht durch Pfeifen Tiere zu Frau Hartwig zu locken, verteilt Fotos, auf denen die Tiere mit ihren Namen angeschrieben sind. Christa Schaller reicht derweil Gurkenstücke und Salatblätter und beobachtet aus dem Hintergrund, ob es jedem Tier noch immer wohl ist. Sie ist es auch, die die Meerschweinchen nach ungefähr einer Stunde, als sie offensichtlich satt sind, eins nach dem anderen aus dem Tischgehege zurück in die Transportkisten setzt, um Platz für die Hühner zu machen. 

Hunde und Katzen sind oft tabu
Und wieder zeigt sich, welche der acht alten Menschen, die hier um den Tisch versammelt sind, bereits Erfahrung mit Tieren haben. Diesmal ist Frau Trottmann die mutigste, sie lässt sich die Körner von einem Huhn direkt aus der Hand picken. Frau Trottmann hat zwar nie Hühner gehalten, aber früher hatte sie einen Hund.

Einen Hund als Haustier zu haben, ist für sie im Alterswohnheim nicht mehr möglich. Sie wäre nicht mehr selbstständig genug, das Tier zu pflegen, und dem Heim selber fehlen die personellen Ressourcen dazu. Zudem wäre es schwierig, mit den personellen Wechseln im Schichtbetrieb klare Verantwortlichkeiten zu schaffen, worunter das Tier leiden könnte, wie Fanny Andermatt sagt. Hingegen teilen manche Bewohner ihre Zimmer mit Fischen und Wellensittichen. Daneben gibt es zwei Angestellte, die oft ihre Hunde mitbringen, und viermal jährlich kommen zwei Therapiehunde zu Besuch. 

Welche Haustiere für die Bewohner zugelassen sind, ist von Heim zu Heim verschieden. Hunde sind selten anzutreffen, Katzen etwas häufiger. Manche Institutionen halten auch selber Katzen. Dagegen gibt es einige Altersheime mit angeschlossenen Bauernhöfen oder Nutztiergehegen, etwa mit Zwergziegen. Davon profitieren aber nicht alle Bewohner. Menschen, die körperlich stark eingeschränkt sind, können kaum eine Ziege streicheln – die kommt ja nicht auf den Schoss wie das Huhn, dem Frau Müller jetzt bedächtig über die Brust streicht. 

Und dann blickt Barbara Hamburger auf die Uhr und merkt: «Wir haben bereits zwanzig Minuten überzogen.» Wie ihr ist es wohl auch den meisten Senioren am Tisch ergangen: Im Kontakt mit den Tieren geht die Zeit vergessen. Und dabei tritt auch das eine oder andere Leiden für eine Weile in den Hintergrund. 

www.tiere-im-heim.ch

TV-Tipp: Die Arbeit von Barbara Hamburger ist am Sonntag, 21. Januar, um 18.15 Uhr auch Thema in der Sendung «Tiergeschichten» auf SRF 1.