«Am Samstagabend des Pfingstwochenendes bekam ich am offenen Werkstattfenster einen unerwarteten Besuch. Es war ein zuerst exotisch anmutender grosser Vogel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte», berichtet «Tierwelt online»-Leser M. N.* «Ich habe ihn fotografiert und von meinem Sohn recherchieren lassen – das ist ja ein Waldrapp!»

Der Mann aus dem Kanton St. Gallen möchte nicht namentlich genannt werden und auch seinen Wohnort nicht bekannt geben. Er möchte keine Schaulustigen. Als der Waldrapp ihn besuchte, hatte er Zeit, den Vogel näher zu betrachten. «Ein wunderschönes Tier mit intelligentem Blick. Er schaute einem lange konzentriert in die Augen, ohne zu blinzeln und schien sich zu interessieren, was ich gerade so mache.»

Ein wunderschönes Tier mit intelligentem Blick.

Waldrapp-Beobachter M. N.

Der Waldrapp wurde in Europa vor rund 400 Jahren ausgerottet. Bei dem Vogel vor dem Werkstattfenster handelte es sich um einen Vogel aus dem europäischen Wiederansiedlungsprogramm – was auch deutlich zu erkennen war an den Ringen um den Beinen und dem GPS-Sender auf dem Rücken. «Ich gab ihm, weil er ausgestattet war wie James Bond, den Namen Agent 007», sagt N.  

Agent 007 gehört vermutlich zur jüngsten Brutkolonie des Projekts bei Überlingen am Bodensee. Diese Waldrappe streifen nach ihrer Rückkehr aus dem Überwinterungsgebiet oft in der Schweiz umher – vor allem, wenn sie noch nicht geschlechtsreif sind und daher noch nicht brüten. Genau so machte es letztes Jahr zum Beispiel auch das Weibchen Sonic («Tierwelt online» berichtete). In diesem Jahr hätte Sonic zum ersten Mal brüten können. Leider starb sie auf dem Weg ins Brutgebiet an einem Stromschlag (wir berichteten ebenfalls).

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Vier Waldrappe in der Ostschweiz
Die ersten Waldrappe aus dem Wiederansiedlungsprojekt wurden von Hand aufgezogen und zeigen daher nicht so viel Scheu vor Menschen, wenn sie alleine unterwegs sind. Sobald sie wieder unter Artgenossen seien, ändere sich das aber, wie Projektleiter Johannes Fritz 2019 zu «Tierwelt online» sagte.

Zu diesen Waldrappen gehört aller Wahrscheinlichkeit nach auch Agent 007. Dieser tauchte nämlich sogar noch einmal vor dem Werkstattfenster unseres Informanten auf. «Am nächsten Tag, kurz vor Mittag, war er dann wieder da. Er klopfte einfach mal ans Fenster. Ich weiss nicht, wie lange er schon dastand. Dem scheints auf meinem Fensterbrett gefallen zu haben», erzählt N. «Als ich wegging hat er mit dem Schnabel geklopft. Ich dachte, dass muss ein Zufall sein und ging wieder hin zu ihm und dann wieder weg – und er hat nochmal geklopft!»

Sein Sohn verfolge nun am Computer das GPS-Signal des Vogels. «Zum Glück konnte man nicht sehen, dass er genau auf meinem Fensterbrett gelandet ist. Vermutlich tat er dies der besseren Unterhaltung willen, denn bei mir bekam er wenigstens was Interessantes zu sehen», scherzt N. Gemäss der App «Animal Tracker», mit der man die Wege der besenderten Tiere verfolgen kann, halten sich derzeit vier Waldrappe in der Ostschweiz auf. Einer von ihnen dürfte Agent 007 sein. Falls er sich wieder zu N.s Werkstatt bewegt, will der Sohn sofort Bescheid geben.

*Name der Redaktion bekannt.