Die asiatischen Vorfahren unserer heutigen Haushühner, die wilden Kammhühner, sind sehr gute Flieger. Für sie ist es lebenswichtig, bodenlebenden Fressfeinden schnell zu entkommen. Auch zum Übernachten suchen sich Kammhühner bevorzugt einen Platz auf einem Bambus-, Gummi- oder anderen Tropenbaum. Ihr Flug ist schnell und wendig. Sie können ihn mit schwirrenden Flügelschlägen beschleunigen. Zudem wurde schon beobachtet, wie sie mit ausgebreiteten Flügeln gleiten. 

Ganz anders sieht es bei den domestizierten Hühnern aus. Auch wenn es von Rasse zu Rasse grosse Unterschiede gibt, kann man doch sagen, dass Haushühner praktisch nicht mehr fliegen können. Ihre Flugversuche dürfen daher eher als ein Aufflattern bezeichnet werden. Meist heben die Tiere mühevoll vom Boden ab, können aber in der Luft lediglich  kurze Strecken zurücklegen. Was sie zudem nur selten freiwillig tun. Führt zum Beispiel keine Treppe zu ihrem bevorzugten Schlafplatz auf der Sitzstange, müssen sie wohl oder übel hinauffliegen. Ein anderer, wesentlich unerfreulicherer Grund für einen kurzen Flug ist das Erschrecktwerden, beispielsweise durch ein plötzlich auftretendes lautes Geräusch oder das zu rasche Betreten des Hühnerhofs.

Ein wichtiges Ausdrucksmittel
Leichte Hühnerrassen wie die Amerikanischen Leghorn überfliegen schnell einmal einen Zaun oder machen es sich auf einem Baum gemütlich. Zwerghühner können gar noch höhere Hindernisse überwinden. Mittelschwere Rassen wie die New Hampshire und schwere Rassen wie die Orpingtons oder das Brahma schaffen es hingegen kaum, überhaupt vom Boden abzuheben. Hier spricht man von einer weitgehenden Flugunfähigkeit. Etwas, das sich kein wild lebendes Huhn leisten kann, wenn es lange überleben will. So bringt zum Beispiel ein Bankivahahn ein Gewicht von lediglich einem Kilo auf die Waage. Ein Brahmahahn kann dagegen stolze fünf Kilogramm bei einer Grösse von bis zu 50 Zentimeter erreichen.

Es stellt sich natürlich schon die Frage, ob ein Huhn heute überhaupt noch fliegen können muss. Kaum, denn unsere heutigen Rassehühner leben meist in einer sicheren Umgebung, einem eingezäunten Hühnerhof oder einer Voliere. Doch das führt uns zur nächsten Frage: Welchen Nutzen haben die Flügel der Hühner überhaupt noch? Erich Baeumer, ehemaliger Landarzt und Zoologe, ging dieser und anderen Fragen rund um das Verhalten der Haushühner auf den Grund. Sein ganzes Leben lang beobachtete und studierte er das Verhalten von Hühnern und hielt seine Erkenntnisse im Buch «Das dumme Huhn» fest. Er misst dabei den Flügeln des Haushuhnes grosse Bedeutung zu. Sie sind das wichtigste Körperteil, um nonverbal eine Stimmung auszudrücken. 

Mit den Flügeln unterstreicht das Huhn zahlreiche Verhaltensweisen. Sein kraftvolles Lebensgefühl zeigt der Hahn an, indem er seine Flügel klatschend hinter dem Rücken zusammenschlägt. Meist geschieht dies nach einem kurzen Auffliegen oder zu Beginn einiger Krährufe. Schwenken oder wedeln mit den Flügeln ist aber auch ein Ausdruck von Angst. Sowohl Henne als auch Hahn zeigen dieses Verhalten vor einem ranghöheren Tier. Wurde ein Tier aus der Herde kürzlich besiegt, begegnet es seinem Bezwinger in einer Art Demutshaltung. Diese äussert sich durch ein enges Anlegen der Federn an den Körper und einige Flügelschläge. 

Die Flügel bieten Schutz ...
Auch das Flügelheben ist eine interessante Geste. Versucht eine Henne auf ihr Gegenüber einzuhacken, weicht dieses aus. Hierbei kommt es öfter vor, dass die angreifende Henne plötzlich vor einer ranghöheren Henne steht. Diese beginnt dann ihrerseits zu drohen. In der Folge zeigt die Henne das sogenannte Flügelheben mit zusätzlich gesenktem Kopf. Was wohl einer Art Entschuldigung gleichkommt. Denn das Gegenüber beruhigt sich schlagartig. Bei Vögeln, die noch richtig fliegen können, würde diese Geste wohl in einem Wegfliegen enden, ist sich Baeumler sicher. So gesehen kann das Flügelheben als Überrest dieses Verhaltens gedeutet werden.

Auch wenn Hühner nicht mehr allzu weit fliegen, müssen sie ihren Flügeln Sorge tragen und sie hegen und pflegen. Putzen und Flügelschlagen sind daher wichtige Verhaltensweisen. Dafür bieten ihnen die Flügel Schutz. Sei es beim Angriff eines Artgenossen, bei dem das attackierte Huhn seine Flügel wie Schutzschilder vor den Kopf hält, oder um sich vor Erfrierungen zu schützen. 

...  und sorgen für Abkühlung
Das zeigt sich nachts auf der Sitzstange, wo Hühner bei völliger Entspanntheit ihren Kopf unter einen Flügel legen. In dieser Position finden sie nicht nur die nötige Ruhe, um sich von einem erlebnisreichen Tag zu erholen. Zusätzlich sind bei dieser Haltung die Kopfanhängsel, Kamm und Kehllappen, vor der Kälte geschützt. Besonders Hühner wie die Italiener, die einen grossen Stehkamm aufweisen, sind bei tiefen Temperaturen gefährdet. Anders das Appenzeller Barthuhn, das weniger anfällig und daher eher für klimatisch kältere Gegenden geeignet ist.

Bei hohen Temperaturen dagegen verhelfen die Flügel den Hühnern zur nötigen Abkühlung. Bei allzu grosser Hitze versuchen sie auf verschiedene Art und Weise, ihren Körper etwas abzukühlen. Da Hühner nicht schwitzen können, geben sie Wärme über ihre Atmung ab. Führt die Atemtechnik nicht zum Erfolg, beginnt das Huhn zu keuchen. Oft kann man auch beobachten, dass Hühner ihren Schnabel in kaltes Wasser eintauchen, um sich eine Abkühlung zu verschaffen. Hilft dies alles nichts, sind da noch die Flügel. Hält das Huhn sie vom Körper weg, verbessert sich die Luftzirkulation unter den Flügeln, was zu einer weiteren Abkühlung führt.