Zwar gibt es ab und zu einmal besonders schauderliche Greueltaten, bei denen ein Mensch zum Kannibalen wird. Doch Artgenossen – oder Teile von ihnen – zu essen, gilt bei uns Menschen nicht nur als verwerflich, es ist in der Realität auch praktisch inexistent.

Im Hühnerhof dagegen kommt Kannibalismus immer wieder mal vor. Besonders Küken sind davon betroffen. Da wird in die Zehen gepickt, es werden Kämme angefressen oder ein Tier traktiert die Gegend rund um den After eines anderen so lange, bis Blut spritzt. Das Picken am After kann sogar dazu führen, dass der Darm eines Kükens herausgezogen wird. Seltsamerweise wehrt sich das Opfer während dieser Gräueltaten nur selten.

Über die Ursachen des Kannibalismus bei Hühnern lässt sich nur spekulieren. Die Fachwelt steht nach wie vor vor einem Rätsel. Zwar werden immer wieder Vermutungen angestellt, doch wissenschaftlich nachgewiesen ist bislang nichts. Einst ging man davon aus, dass eine eiweissarme Ernährung schuld sei. Dies widerlegte allerdings der bekannte Verhaltensforscher Bernhard Grzimek, ehemaliger Direktor des zoologischen Gartens in Frankfurt am Main. Er führte Untersuchungen durch, bei denen er Testhühnern reichlich Eiweiss verabreichte – ohne dass sich in ihrem Verhalten eine Besserung abzeichnete. Grzimek folgerte, dass Eiweissmangel zumindest nicht der alleinige Grund für Kannibalismus ein könne.

Eine andere Theorie besagt, dass Langeweile am Anfang des Kannibalismus steht. Diese Idee wird auch durch die Tatsache gestützt, das Kannibalismus vorwiegend in Legebatterien auftritt oder bei Tieren, die längere Zeit im Stall auf engem Raum gehalten werden. Gerade an diesen Orten können die Hühner ihrem natürlichen Trieb zum Scharren und Picken kaum oder gar nicht nachkommen. Erwischen sie während des Bepickens einen Blutkiel, tritt Blut aus. Davon angestachelt, pickt das Huhn immer weiter, während das traktierte Tier zu fliehen oder auszuweichen versucht.

Zu feucht, zu warm, zu hell
So kommt es zu einer regelrechten Verfolgungsjagd, in deren Verlauf noch mehr Federn herausgerissen werden und halt auch mal die Haut verletzt werden kann. Andere Hühner können durch dieses Verhalten angestachelt werden und es nachahmen. Gemäss Carl Heinrich Engelmann, ehemaliger Abteilungsleiter am Institut für landwirtschaftliches Versuchs- und Untersuchungswesen in Jena (D), könnte genau dies auch während des Fremdputzens auftreten – wenn Hühner einander putzen, ähnlich wie dies Affen tun, wenn sie sich gegenseitig lausen. Das Problem mit dieser Theorie: Bis heute fehlt der Beweis, dass Hühner sich überhaupt Fremdputzen.

Nicht nur Blut kann ein Auslöser sein für das aggressive Gepicke. Auch die glänzende, sich vorwölbende Kloakenschleimhaut bei der Eiablage lockt Artgenossen zum Bepicken. Hennen, welche andere dabei beobachten, wie sie die Aftergegend eines anderen Huhns bepicken, beginnen daraufhin ebenfalls mit dem «Gehacke». Dabei spielt plötzlich die Rangordnung keine Rolle mehr, obwohl sie sonst bei den Hühnern einen sehr grossen Stellenwert hat, ja sogar als die stabilste in der Tierwelt gilt. Die geplagten Hennen sind meistens nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Es entsteht eine Aufgeregtheit, die ansteckend ist und die sogar zu Verletzungen führen kann, an deren Folgen eine Henne stirbt – merkwürdigerweise oft ohne dass sich die angegriffene Henne zur Wehr gesetzt hat.

Ein anderer möglicher Auslöser für Kannibalismus unter Hühnern, über den in Fachzeitschriften immer wieder spekuliert wird, ist ein ungünstiges Stallklima. Zu wenig Feuchtigkeit, zu hohe Temperaturen oder eine zu grosse Lichtintensität könnten die Tiere verunsichern, was das Verhalten zur Folge habe. Aber auch Stress, ausgelöst durch zu wenige Nestplätze, unregelmässige Fütterung, Parasitenbefall oder ein Vitamin- und Mineralstoffmangel werden als Gründe nicht ausgeschlossen. Gegen den Einfluss des Futters spricht, dass die heutigen Fertigmischungen in Bezug auf die Nährstoffe, Vitamine und Mineralstoffe optimal zusammengesetzt sind.

Wie im Buch «Geflügelkrankheiten» von Karl Fritzsche, einem ehemaligen Professor an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität in Giessen (D), nachzulesen ist, zeigen Untersuchungen aus den 1950er-Jahren, dass Hühner durchaus eine Vorliebe für bestimmte Federn haben. So wurden federfressenden Hühnern sowohl Federn von Leghornhühnern wie auch von Italienern vorgelegt. In allen Fällen wurden diejenigen der Italiener zuerst verzehrt.

Manche Rassen picken öfter
In Kreuzungsversuchen gelang es zudem nachzuweisen, dass das Federfressen auf dem Erbweg übertragbar ist. Laut diesen Untersuchungen führt wohl eine Mischung aus genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen zum Federfressen. Auch von Züchtern hört man immer wieder, dass sie das Problem des Federfressens und des Kannibalismus nur bei einzelnen Rassen feststellen.

Bei der Behandlung des Problems sind sich Experten uneinig. Vieles ist schon ausprobiert und empfohlen worden. Im «Handbuch der Geflügelkrankheiten» rät Harry Dieter Schobries, der Einstreu ungehackte Rüben, Grünfutter, Fleischstückchen, Weizen und Hafer unterzumischen. Dies lenkt die Hühner voneinander ab und hält sie beschäftigt.

Ebenfalls zur Beschäftigung kann den Hühnern Styropor zur Verfügung gestellt werden. Dieses beschäftigt die Tiere, indem sie darin herumpicken können. Entdeckt man ein verletztes Tier, sollte man es sofort aus der Herde nehmen, weil sonst andere Herdenmitglieder ebenfalls zum Anpicken ihrer Artgenossen angestachelt werden könnten.  Die Tiere genesen in der Einzelhaltung rasch und können danach wieder zurückgebracht werden. Geht die Wundheilung nur schleppend voran, kann sie mit Wundpuder vorangetrieben werden.