Meistens passiert es ganz plötzlich: Gerade ist die Katze noch geschmeidig vom Sofa gesprungen, im nächsten Moment taumelt sie, fällt immer wieder hin oder steht gar nicht mehr auf. Sie hält den Kopf schief, wirkt desorientiert und zeigt heftige Bewegungen der Augäpfel. Und ähnlich wie bei der Seekrankheit geht der gestörte Gleichgewichtssinn, in der Fachsprache Vestibularsyndrom genannt, mit grosser Übelkeit einher. «Die Symptome einer Störung im Vestibularapparat sind oft sehr dramatisch, zum Glück steckt dahinter aber häufig eine nicht so schwerwiegende Erkrankung. Die Prognose ist in vielen Fällen gut», sagt die Tierärztin Veronika Stein, seit 2016 Professorin und Leiterin der Neurologie an der Vetsuisse Fakultät Bern. Wichtig dabei sei, anhand der klinischen Symptome herauszufinden, welcher Anteil des Vestibularapparates erkrankt ist.

Wie gut die Behandlungsaussichten sind, hängt vor allem von der Ursache ab. Diese kann im Ohr oder im Gehirn liegen, denn für den Gleichgewichtssinn wird beides gebraucht: das Gleichgewichtsorgan im Innenohr sowie die Vestibulariskerne im Hirnstamm und ein kleiner Anteil des Kleinhirns, in dem die eingehenden Informationen verarbeitet werden. Um die Grunderkrankung zu lokalisieren, führt der Tierarzt eine neurologische Untersuchung durch, bei der unter anderem das Gangbild analysiert und die Reflexe kontrolliert werden. 

Tumore und Infektionen
Die korrekte Interpretation sei oft nicht ganz einfach, sagt Stein. «Es gibt aber auch einige sehr deutliche Hinweise, zum Beispiel zeigt ein getrübtes Bewusstsein in der Regel an, dass es sich um das zentrale Vestibularsyndrom handelt, das Problem also im Hirnstamm liegt.» Im Gehirn können unter anderem Tumore, die vor allem bei älteren Katzen vorkommen, aber auch infektiöse Erkrankungen wie Toxoplasmose für einen gestörten Gleichgewichtssinn sorgen. Eine weitere mögliche Ursache sind Vergiftungen, die meist mit grosser Übelkeit, starkem Speicheln und Erbrechen einhergehen.

Zur exakten Diagnose ist es in der Regel nötig, Veränderungen im Gehirn mithilfe einer Magnetresonanztomografie sichtbar zu machen. Die Prognose sieht generell eher schlechter aus als bei dem weit häufiger vorkommenden «peripheren Vestibularsyndrom». Dieses entsteht dann, wenn eine Mittelohrentzündung auf das Innenohr und den darin liegenden Gleichgewichtsapparat übergeht. Nach erfolgreicher Behandlung der Entzündung kommt auch der Rest wieder ins Gleichgewicht. 

In seltenen Fällen kann eine Missbildung des Gleichgewichtsapparates angeboren sein. So können sich Kätzchen zum Beispiel schon im Mutterleib oder während der Geburt mit dem Parvovirus (Katzenseuche) infizieren, wodurch unter anderem das Kleinhirn immensen Schaden nimmt. Überlebt so eine Katze, wird sie je nach Ausmass der Schädigung vermutlich nie in der Lage sein, auf Möbel zu springen oder auf einem Geländer zu balancieren. Wenn sie es aber trotzdem immer wieder versucht, besteht Verletzungsgefahr. «In manchen Fällen müssen wir mit dem Halter gemeinsam abwägen, ob es nicht besser ist, das Tier zu erlösen», sagt die Tierärztin.

Kann die Grunderkrankung behandelt werden, sollte man die Genesungsphase unterstützen, indem man viel für das Tier da ist, eine ruhige Umgebung schafft, Stress und Aufregung vermeidet und immer wieder Wasser und Futter anbietet. Das gilt im Besonderen, wenn das «idiopathische oder geriatrische Vestibularsyndrom» diagnostiziert wurde. Das kommt vor allem bei älteren Hunden häufig und etwas seltener bei Katzen vor. Die genauen Ursachen sind allerdings noch nicht bekannt. «Eine Theorie besagt, dass ein Missverhältnis zwischen der Produktion der Flüssigkeiten im Innenohr und der resorptiven Vorgänge, also der Stoffaufnahme, besteht», erklärt Veronika Stein. Nach einigen Tagen verschwinden die Symptome in der Regel von selbst wieder.