Während Momo, die schwarz-weisse Katze, den automatischen Staubsauger in der Stube beobachtet, geht ihre Besitzerin Andrea Kaspar in die Küche. Die Frau nimmt den Insulin-Pen und drückt einen Tropfen daraus auf ein Blatt Haushaltspapier, um sicherzustellen, dass die Nadel nicht verstopft ist. Denn eine falsche Dosis könnte für die Katze lebensgefährlich werden. Exakt fünf Einheiten Insulin muss Momo jeden Morgen und jeden Abend bekommen, dies ermöglicht der Katze ein beschwerdefreies Leben trotz Diabetes.

«Komm, Momo, die Spritze», ruft Kaspar. Das Tier hat offensichtlich keine Angst davor, es kommt tatsächlich zu ihr. Die Frau nimmt die Katze zwischen die Beine und kniet sich nieder, packt eine Hautfalte von Momos Hals mit der einen Hand, drückt mit der anderen den Pen hinein, und schon ist das Ganze erledigt. Momo hat nicht mal gezuckt. 

Ja nicht zu viel
Seit viereinhalb Jahren macht das Ehepaar Kaspar das so, jeden Morgen und jeden Abend, längst ist es zur Routine geworden. Doch so reibungslos ist es nicht immer gelaufen. «Am Anfang war das Spritzen schwierig», erzählt Andrea Kaspar. «Manchmal ging ein Teil des Insulins daneben und wir wussten nicht recht, wie viel tatsächlich unter die Haut gelangt und wie viel stattdessen im Fell gelandet war.»

Nachspritzen kommt nicht infrage, denn bei einer zu hohen Dosis fällt der Blutzuckerspiegel ab, und das ist für das Tier lebensgefährlich. Eine zu niedrige Dosis dagegen ist zwar im Einzelfall nicht tragisch, mangelt es der Katze aber längerfristig an Insulin, wird es wieder problematisch: Es können wieder die typischen Diabetes-Symptome wie häufiges Urinieren und Gewichtsverlust auftreten. Im schlimmsten Fall droht die Katze in ein lebensgefährliches Koma zu fallen. 

Kaspars hatten bereits einmal einen Kater mit Diabetes. «Als wir erfuhren, dass auch Momo Diabetes hat, waren wir zuerst frustriert», erzählt Andrea Kaspar. Erkannt hatten sie das Problem, weil die Katze dünner und dünner wurde. Nach der Diagnose ging es darum, die richtige Dosierung für das Insulin zu finden, um Momos Gewicht hochzukriegen. «Ich habe Stunden neben dem Napf verbracht, damit sie überhaupt etwas frisst», erinnert sich Kaspar. Momo kriegte in der Waschküche ihren eigenen, immer gefüllten Futternapf – wobei ein Chip-Sensor in der Katzenklappe dafür sorgte, dass die andere Katze des Ehepaars nicht hineingelangte und sich überfrass. Das Wasser im Trinknapf massen sie minutiös ab, um zu wissen, wie viel Momo zu sich genommen hatte. 

Diese ersten Monate mit der Sorge um das Tier und dem ständigen Überwachen, den Blutzuckertests und den medizinischen Untersuchungen, seien sehr stressig gewesen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Die Katze war damals sechs Jahre alt. «Würden wir nicht spritzen, würde Momo sehr wahrscheinlich nicht mehr leben», sagt Kaspar. 

Momo ist kein Einzelfall. Zur Situation in der Schweiz gibt es keine Zahlen, aber aus Grossbritannien ist bekannt, dass Diabetes bei Katzen zunimmt, wie Claudia Reusch, Direktorin der Klinik für Kleintiermedizin an der Universität Zürich, sagt. Meist zeigt sich eine Form, die dem Diabetes Typ 2 bei Menschen sehr ähnlich ist. «Das hat mit der veränderten Lebensweise zu tun», vermutet sie. «Der grösste Risikofaktor ist Übergewicht. Früher waren Katzen draussen und mussten sich bewegen, um ihre Nahrung zu suchen. Heute kriegen sie nährstoffreiches Futter vorgesetzt und haben zu wenig Bewegung.» Dazu passt der Befund, dass bei Freigängern, die sich mehr bewegen als Wohnungskatzen, seltener Diabetes auftritt.

Momo ist zwar eine Wohnungskatze, aber zu dick war sie nie. «Weil wir alle anderen Ursachen ausgeschlossen haben, vermuten wir, dass sie einen Tumor hat, der auf die Hypophyse drückt», erklärt die Besitzerin. Diese Drüse liegt im Schädel und steuert den Hormonhaushalt. 

Buchführung über die Spritzen
Ein Tumor könnte allenfalls operiert werden, doch dazu wird es bei Momo nicht kommen. «Wir haben Bekannte, die finden es komisch, dass wir unserer Katze Spritzen geben», sagt Andrea Kaspar. «Ich finde es ehrlich gesagt selber ein wenig gesponnen. Aber nun noch zu operieren, ginge selbst mir zu weit. Momo ist immer noch ein Tier.»

Seit die passende Dosierung für das Insulin gefunden ist, hält sich der finanzielle Aufwand in Grenzen. Ungefähr 15 Franken kostet das Hormon pro Monat. Kompliziert ist es vor allem, die Betreuung für Momo zu organisieren, wenn Kaspars mal längere Zeit wegfahren. Inzwischen haben sie aber eine Tiermedizinstudentin gefunden, welche sich traut, der Katze Spritzen zu geben. Und zur Not lassen sie auch mal eine Dosis aus, das erträgt Momo ohne Komplikationen. 

Das Spritzen erfordert auch einen klaren Kopf. Zwischen dem Verabreichen der Spritzen müssen mindestens elf Stunden verstreichen. «Ein einziges Mal war mein Mann nicht bei der Sache und hat vier Stunden zu früh gespritzt», erzählt Andrea Kaspar. «Er hat es aber gleich gemerkt und ihr Cookies gefüttert, damit der Blutzuckerspiegel nicht zu stark sank. Die Blutzuckermessung zeigte dann, dass alles in Ordnung war.» Um die Übersicht zu behalten, führen Kaspars sauber Buch über die verabreichten Spritzen.

Anfällig auf Entzündungen
Als Kaspar die Dosis und den Zeitpunkt der letzten Spritze in die Tabelle schreibt, gesellt sich Momo dazu und holt sich ein paar Streicheleinheiten. Unterdessen wagt sich auch Luna, die zweite Katze im Haus, aus dem Gang in die Stube. Scheu blickt sie unter einem Schemel hervor. «Mit Luna würde das nie gehen», sagt Kaspar. «Sie würde sich nie spritzen lassen.» Für solche Fälle gäbe es laut Claudia Reusch von der Uni Zürich inzwischen auch Medikamente, die übers Futter verabreicht werden. Aber das funktioniere längst nicht bei jeder Katze, manche würden eine Tablette in jedem Futternapf finden.

Bei Momo hatten Kaspars am Anfang noch die Hoffnung, dass sich die Symptome legen. Das nennt sich Remission und kommt recht häufig vor, wie Reusch sagt: «Etwa bei jeder vierten Katze geht der Diabetes in Remission, sodass ihr kein Insulin mehr verabreicht werden muss. Das passiert meist innert der ersten drei Monaten nach der Diagnose. Es setzt voraus, dass die Katze unverzüglich und adäquat behandelt wird.»

Nun, Momo gehört nicht dazu. Doch viereinhalb Jahre nach der Diagnose wirkt sie gesund und munter. Nur das Gebiss hat gelitten unter einigen Entzündungen, für welche Katzen mit Diabetes anfälliger sind; Momo hat nur noch vier Zähne. Die Tierärztin habe ihnen einst gesagt, sie glaube, Momo habe sie als Besitzer ausgesucht, sagt Andrea Kaspar. Für Momo war es ein Glück, dass ihre Besitzer bereits Erfahrungen mit einer Diabeteskatze hatten und sich das Bezahlen der medizinischen Rechnungen leisten konnten. Sie ermöglichen Momo das, was allen Katzen zu wünschen ist: ein fast normales Katzenleben.