Erwartungsvoll, leise flüsternd sitzen die Kinder im Kreis und rätseln, was wohl unter dem weissen Tuch, das eine seltsame Form verbirgt, sein könnte. Da, ein zwitscherndes Geräusch. Vorsichtig zieht der Lehrer das Tuch weg. Die Sicht auf einen kleinen Käfig mit zwei Wellensittichen wird frei. Ein «Oh» und «Ah» entfährt den Schülerinnen und Schülern.

Aufmerksam folgen sie den Ausführungen des Lehrers, der ihnen die wichtigsten Daten zur Biologie der Wellensittiche vermittelt. Es sind Papageienvögel mit typischem Kletterfuss und Krummschnabel. Sie stammen ursprünglich aus Australien, wo sie im Grasland Körner suchen und weite Strecken fliegen. Zahlreiche Fragen und eine grosse Anteilnahme bereichern die Ausführungen. Selbst eher zurückhaltende Kinder melden sich und berichten über eigene Erfahrungen mit Vögeln. Schnell wird allen klar, dass Wellensittiche nicht einzeln gehalten werden dürfen und Bewegungsraum brauchen. Ein weiterer Aufenthalt in diesem kleinen Käfig ist nicht artgerecht.

Vom Käfig in die Zimmervoliere
Der Wunsch, das Sittichpaar dennoch im Klassenzimmer zu beherbergen, wurde aber deutlich. Der Lehrer hatte schon vorgesorgt. Eine Zimmervoliere wurde ins Schulzimmer gerollt. Tatkräftig ging die Klasse daran, diese Unterkunft möglichst artgerecht einzurichten: Laubäste, Grasbüschel, Sand, Erde, Kalkstein, Fress- und Trinknapf, sowie ein Nistkasten wurden in die Voliere gebracht. Dann der spannendste Augenblick: Der Lehrer schob den kleinen Käfig vor die Volierentüre und öffnete die Verbindungstüren. Nach einer Weile flog das Männchen in die hübsch eingerichtete neue Behausung ein. Das Weibchen hingegen versuchte dauernd im kleinen Käfig herumirrend zu folgen. Schliesslich fand es den Weg doch noch. Gross war die Erleichterung und Freude.

Ein Pflegeplan wurde nun erstellt. Täglich waren zwei Kinder verantwortlich für Fütterung und Wartung. Dass man nicht einfach nur bequem Körner verfüttert, wussten die Schülerinnen und Schüler inzwischen. Täglich suchten sie Wildkräuter, ährentragende Gräser, erneuerten Laubäste, bliesen die Spelzen aus dem Futternapf und füllten nur nach, wenn es wirklich notwendig war. Steine und Sitzstangen mussten täglich gereinigt werden. Das grosse Reinemachen und Duschen der Sittiche übernahm die Lehrperson unter Assistenz der Kinder.

Am Anfang rissen sich die Schulkinder um die Pflege. Aber es kamen die Momente, wo der Lehrer oder andere Kinder intervenieren mussten, weil die Arbeiten nur oberflächlich  gemacht wurden oder sich Kinder drückten. Im Klassengespräch wurde dies jeweils thematisiert. «Wir haben zur Haltung Ja gesagt, also übernehmen wir auch diese Verantwortung.» Niemand wollte auf die Vögel im Schulzimmer verzichten.

Kollegen aus der Heimat
Bei einigen Kindern traten der Wunsch und die Frage auf, ob nicht noch weitere Vögel in dieser grossen Voliere gehalten werden könnten. In Australien, bei den wilden Wellensittichen, gäbe es doch sicherlich noch andere Vögel. Bald hielten ein paar wildfarbige Zebrafinken und ein Pärchen Diamanttauben Einzug. Die grosse Bodenfläche wurde von einem Zwergwachtelpärchen bevölkert. Das kleine Stück Australien brachte viel Freude und Lebendigkeit – aber auch mehr Pflichten ins Schulleben.

Als die Zebrafinken mit Balzen und mit dem Nestbau begannen, musste auch an ein Aufzuchtfutter gedacht werden. Das musste täglich frisch zubereitet werden, ebenso musste Hirse zum Keimen gebracht werden und auch der Putzaufwand wurde mehr. Wie gross war aber die Freude, als plötzlich leise Zischlaute aus dem Zebrafinkennest ertönten. Die Kinder registrierten genau, dass es etwa drei Junge sein müssten, denn es tönte nämlich verschieden hoch oder tief. Flügge geworden, waren nun auch die Jungvögel gut zu beobachten, wie sie mit Bettelbewegungen und Rufen die Eltern animierten, ihnen Futtter in den Schnabel zu würgen. Immer wieder entdeckten die Kinder Neues: «Jetzt werden die dunklen Schnäbel der Jungen ja schon rosa», riefen die Schülerinnen. Andere stellten fest: «Das Zebrafinkenmännchen reisst Halme aus dem Nest der ebenfalls brütenden Diamanttauben und baut jetzt im Wellensittichkasten, ist das denen egal?»

Die Kinder erlebten aber auch weniger Schönes. Der seine Familie führende Zwergwachtelhahn griff den am Boden balzenden Diamanttäuber an oder das Wellensittichweibchen beknabberte das Brutkörbchen der Zebrafinken. Gemeinsam überlegten alle, wie man Vorkehrungen vornehmen könnte, um die Gemeinschaftshaltung dennoch weiterzuführen. Das Nistkörbchen für Prachtfinken wurde umdrahtet, sodass wohl noch die Finken, aber nicht mehr die Sittiche rankamen.

Bei den Tauben und Wachteln musste sich die Klasse entscheiden, auf eine Art zu verzichten. Da kam der Vorschlag, man könnte die Diamanttauben separieren, bis die jungen Wachteln gross und fremdplatziert wären. So wurde es gemacht. Gross war das Erstaunen, dass das brütende Diamanttäubchen sich tatsächlich samt Nest umplatzieren liess.
Es kam der Tag, an dem die Jungvögel abgegeben werden mussten. Die Schüler wollten die Vögel gerne an Privatplätze geben und nicht einfach in den Zoofachhandel. Es meldeten sich spontan Kinder mit dem Wunsch, selber Vögel zu halten. Sie wüssten ja jetzt, welchen Aufwand und welche Verpflichtungen eine artgerechte Vogelhaltung erfordere.

Die neuen Schüler übernehmen
Mit Einverständnis und versprochener Unterstützung der Eltern fanden so die Jungvögel neue Bleiben. Der Knabe, welcher die jungen Wellensittiche heimnehmen durfte, baute sich sogar eine Zucht auf. Ein anderer Junge, der die Zebrafinken – leider alles Männchen – mit nach Hause nahm, durfte mit seinem Götti für jedes Männchen ein Weibchen im Zooladen kaufen.

Als nach einem Jahr Schülerinnen und Schüler in die Oberstufe eintraten, stellte sich die Frage: Was passiert jetzt mit der Vogelhaltung im Klassenzimmer. Keine Bange, meinten die Kinder, die neuen Schülerinnen und Schüler freuen sich bestimmt darauf, dass sie Vögel im Schulzimmer haben können. So blieben die Vögel. Und viele Schulkinder erfuhren durch artgerechte Vogelhaltung Naturkenntnis, lernten Verantwortung und Respekt, erfuhren Geburt und Tod als natürlichen Lebensprozess.