Während sich im Zürichsee Badende schön erfrischen, steht Linda Tschirren bei knapp 40 Grad unter dem Glasdach einer Aussenanlage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil. Vor ihr in einem blauen runden Becken tummeln sich zahlreiche Fische im vergleichsweise kühlen Wasser. Es sind Nil-Tilapien, Speisefische aus der Familie der Buntbarsche. Gemütlich drehen sie bei 28 Grad Wassertemperatur ihre Runden. «Oft werde ich gefragt, ob die Fische kein grösseres Becken bräuchten, aber das wäre für diese Art genau das Falsche. Ein zu kleiner Schwarm würde die Tiere total stressen.» Die 37-jährige Biologin kennt sich aus. Sie forscht seit Jahren an Stress bei Fischen.

Fische haben Gefühle

Dass Fische überhaupt so etwas wie Gefühle haben, war lange unbekannt. Man sprach ihnen gar ab, Schmerzen oder Angst zu empfinden. Erst vor rund 20 Jahren fanden Wissenschaftlerinnen heraus, dass Fische sowohl die physischen als auch die geistigen Voraussetzungen erfüllen, Schmerz sogar bewusst wahrzunehmen. Zum einen besitzen Fische Schmerzrezeptoren, die auf schädliche Reize reagieren und damit verhindern, dass sich die Tiere verletzen. Zum anderen reagieren sie auf Schmerzreize mit einem veränderten Verhalten, welches sich normalisiert, sobald sie Schmerzmittel bekommen. Wissenschaftlerschliessen daraus, dass die Tiere nicht nur reflexartig auf einen Reiz reagieren, sondern Schmerzen auch tatsächlich wahrnehmen und daran leiden können. Nebst direkten, physischen Schmerzen gibt es aber auch psychisches Leiden.

Angst gehört dazu, aber auch Langeweile und Einsamkeit. All diese Faktoren führen bei Tieren zu Stress. «Niemand würde einer Katze oder einer Kuh absprechen, dass sie Stress empfinden kann. Aber bei Fischen hinkt die Forschung hinterher», bedauert Tschirren. Bei Haus- und Nutztieren setzt sich der Tierschutz daher seit Jahrzehnten nicht nur dafür ein, dass diese keine Schmerzen empfinden, sondern dass sie auch artgerecht gehalten werden. Katzen wollen beschäftigt werden, ihr Revier durch Kratzen markieren und sich zum Schlafen zurückziehen können, während Kühe die Gesellschaft von Artgenossen, genügend Bewegung und leckeres Raufutter geniessen. Aber was brauchen Fische, um glücklich zu sein? Und wie erkennt man, ob ein Fisch gestresst ist?

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Früherkennungssystem

Linda Tschirren kennt ihre Tiere gut. «Auch einem Fisch sieht man durchaus an, ob er zum Beispiel krank oder zufrieden ist. Viele Fischzüchter merken intuitiv, ob es ihren Tieren gut geht oder etwas im Argen liegt.» Für Züchter sei es aber manchmal gar nicht so einfach, dies in Worte zu fassen und auch anderen zu vermitteln, zum Beispiel, wenn eine Kontrolle durch das Veterinäramt ansteht oder der Konsument Fragen hat. Die Biologin hat daher ihre Doktorarbeit dem Thema gewidmet und verschiedene Verhaltensweisen von Fischen untersucht. Daraus ist eine App entstanden. «Darin können Fischzüchter nicht nur Parameter wie Wassertemperatur, Futter und Besatzdichte eingeben, sondern auch alles, was sie bei ihren Fischen beobachten. Die App rechnet dann quasi aus, wie gut es den Tieren geht.» Das hilft dabei, früher zu erkennen, wenn etwas nicht stimmt. Fische können schliesslich schlecht auf sich aufmerksam machen. Darunter würden dann nicht nur die Tiere leiden, sondern auch die Halter. «Stress wirkt sich oft direkt auf die Gesundheit aus.

Ein gestresster Fisch wird schneller krank oder frisst weniger. So können Schwärme schlechter wachsen oder Tiere sterben. Das kann zum Verlustgeschäft werden», betont Tschirren. Ihr Ziel ist es, dass die Idee der App auch in der industrielle Fischzucht Anwendung findet. «Natürlich kann man sich in grossen Anlagen nicht jeden Tag jeden der Fische einzeln anschauen. Aber mithilfe einer Kamera, die den Schwarm erfasst, und einer computerbasierten Erkennung, welche das Verhalten der Fische einordnet, kann eine Art Frühwarnsystem entwickelt werden», ist sich die Fischexpertin sicher. Kombiniert mit regelmässigen Analysen der Wasserparameter kann mithilfe solcher künstlichen Intelligenz vielleicht in Zukunft verhindert werden, dass wertvolle Zeit verloren geht. «So ein Systemkönnte zum Beispiel erkennen, wenn sich die Fische anfangen zu kratzen, und eine Parasitenbehandlung kann frühzeitig gestartet werden. Das spart in diesem Fall dann Medikamente.»

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Dass ein solches System sinnvoll sein kann, zeigt der in den letzten Jahren gestiegene Appetit derSchweizerinnen und Schweizer auf Fisch. Innert 15 Jahren ist der Konsum von Fischen und Meerestieren pro Kopf von 7,4 auf 8,9 Kilogramm gestiegen. Die Wassertiere gelten als gesunde Alternative zu Fleisch. Jedoch ist den meisten Konsumenten mittlerweile bewusst, dass die Weltmeere zusehends leergefischt werden. Aber auch eine Haltung von Fischen in Aquakulturen wird durchaus kritisch gesehen, insbesondere wenn die Endprodukte billig aus dem Auslandimportiert werden. «So hat der vor allem aus Asien importierte Tilapia sehr an Ruf eingebüsst», meint Tschirren mit Blick auf die weiss-roten Fische im Becken vor ihr. «In sauberem Wasser gezüchtet, schmeckt er hervorragend, hat festes Fleisch, kann vegetarisch ernährt werden, ist einfach zu halten, keine invasive Tierart und würde sich deshalb super als Zuchtfisch eignen. Aber hierzulande ist er leider wenig bekannt». Die Konsumenten bevorzugen bei «Schweizer Fisch» oft Arten, die sie vom Namen her kennen.

«Schlussendlich hat es der Konsument in der Hand. Aus lokalen Seen gefangene Fische oder solche aus Schweizer Fischzuchten sind definitiv importierten Fischfilets vorzuziehen. Deswegen arbeitet der Schweizerische Aquakulturverband mit Suisse Garantie daran, unsere Schweizer Fische ins bekannte Label aufzunehmen», weiss Linda Tschirren. Sie tippt auf ihrem Handy Daten in die App. Entspannte Flossen, ruhiges Schwimmverhalten, ihren Fischen geht es gut. Im Herbst werden sie geschlachtet und verkauft. Schmecken glückliche Fische denn auch besser als gestresste? «Auf der Zunge ist das schwer festzustellen, fürs Gewissen ist aber klar: Fischwohl ist vom Ei bis zum letzten Flossenschlag wichtig», meint die Biologin, steckt das Handy in die Hosentasche und macht sich an diesem Sommertag im August auch auf zu einer Abkühlung im See.