Als Franziska Dreier Kuratorin für Raubtiere des Zoos Zürich wurde, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass dereinst auch Samt-schrecken, Afrikanische Oliventausendfüssler und Geisselspinnen in ihren Bereich gehören. Mit langsamen Schritten und aufmerksamem Blick geht die ehemalige Tierpflegerin durch den neuen Zürcher Insektenwald. «Hier ist eine», sagt die Tierbegeisterte und weist auf eine Dorngespensterschrecke. Das Tier sieht urzeitlich aus – und benimmt sich auch so. «Wenn sie am frühen Morgen über den Boden krabbeln, geben sie unheimliche Geräusche von sich», sagt die Kuratorin. Sie spricht von den tropischen Insekten, als hätte sie sich zeitlebens mit ihnen beschäftigt. Dem ist aber nicht so.

Insekten gehörten bis anhin nicht zu den typischen Tieren im Zoo. Franziska Dreier, als Kuratorin verantwortlich für Schneeleoparden, Asiatische Löwen und Amurtiger, erzählt: «Als wir die Raubkatzenhaltung neu planten, hatte der Zoodirektor Severin Dressen die Idee, neu auch Insekten zu zeigen.» Weil das Gebäude im Raubkatzenbereich zur Verfügung stand, fiel die Verantwortung für die Krabbeltiere an Franziska Dreier. Sie hat sich voll ins Thema eingearbeitet. «Wenn man im Zoo tätig ist, sollte die Bereitschaft vorhanden sein, mit neuen Arten zu arbeiten», sagt sie. Zwei Jahre später ist sie begeistert von ihrem neuen Fachgebiet. Ihre Motivation ist auch zu ihrem neunköpfigen Team übergesprungen. Dank dem, dass unter den Tierpflegern bereits Insektenzüchter waren, konnte auf bestehendes Wissen aufgebaut werden. Zudem konnte der Zoo bei Privatzüchtern Wissen generieren. Etliche tropische Arten stammten aus Privatzuchten aus Frankreich, sagt die Kuratorin.

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Wühler im Erdreich

Franziska Dreier gibt zu bedenken, dass in Zoos zu Säugern mehr Wissen vorhanden sei als zur Haltung und Zucht von Insekten. Der Zoo Zürich leistet mit dem Insektenhaus Pionierarbeit. Sie habe etwa in asiatischen Zoos nachgefragt, in den Heimatgebieten vieler spektakulärer Insektenarten. Dort beschäftige sich aber niemand näher mit Insekten. «Das ändert sich nun», sagt die engagierte Kuratorin. Sie will am nächsten Treffen der Zookuratoren von den Erfahrungen in Zürich berichten. Bisher gebe es Zuchtbücher für Vögel, Säugetiere und Reptilien. Neu sei geplant, dass auch für gefährdete Insektenarten die Zucht koordiniert werde, wenn etwas über den Status der Art bekannt sei. «Für den bedrohten Seychellen-Tausendfüssler gibt es bereits ein europäisches Erhaltungszuchtprojekt», setzt die Raubtierkennerin nach, die nun auch zur Insektenkuratorin geworden ist.

«Dorngespenster- schrecken geben unheimliche Geräusche von sich.»

Franziska Dreier, Kuratorin, Zoo Zürich

Franziska Dreier geht in die Hocke und gräbt mit den Händen in einem Laub-Erde-Holz-Gemisch. Zum Vorschein kommen dicke, olive glänzende, riesige Tausendfüssler, deren unzählige Beinchen zappeln. «Derzeit halten und züchten wir Afrikanische Oliventausendfüssler. Wir generieren mit dieser Art Wissen, das wir später bei der Haltung und Zucht des bedrohten Seychellen-Tausendfüsslers verwenden können.» Die Haltung der bedrohten Art sei in Planung. Die Tausendfüssler werden hinter den Kulissen gezüchtet, doch Franziska Dreier vermutet, dass sie sich bereits im begehbaren Insektenwald fortgepflanzt haben.

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Von den Bodenbewohnern, die so gross wie kleine Schlangen sind, bekommt man nicht viel mit. Besucherinnen und Besucher werden zuerst auf Gurkenstücke aufmerksam, die auf der Laubschicht liegen und bis auf die Rinde leergefressen sind. «Die Tausendfüssler sind meist im Erdreich unterwegs, sie ernähren sich hauptsächlich davon», erklärt die Insektenspezialistin. Ganz andere Vorlieben hat da ein Insekt, das beim ersten Blick aussieht wie verdorrte Blätter. «Eine asiatische Gottesanbeterin, die einzige Fleischfresserin», sagt Franziska Dreier und setzt nach: «Wir füttern sie mit einer Pinzette mit kleinen Heuschrecken.»

Gleich dahinter schaut jemand neugierig durch die Scheibe: ein Amurtiger. Ob ihn die Insekten oder doch eher die Menschen interessieren? Er gehört zu den drei Raubtierarten, die neu wieder im Zoo Zürich leben. «Der Insektenwald ist im ehemaligen Gebäude für die Asiatischen Löwen entstanden. Wir halten unsere drei Raubtierarten neu in einem Wechselsystem.» So komme es vor, dass manchmal auch Schneeleoparden und Asiatische Löwen im Gebäude angrenzend an den Insektenwald lebten.

Ein Kongo-Rosenkäfer krabbelt dem Scheiben-Rand entlang und leuchtet in Gelb und Weinrot. Wie viele Insekten lebt er nur wenige Monate. Die Eier werden in den Boden gelegt. Nach etwa einem Monat schlüpfen die Larven und fressen sich durch das Substrat, bis sie nach wenigen Monaten, nach der Verpuppung, als Käfer aus dem Erdreich krabbeln. Die Dorngespensterschrecke aus Papua-Neuguinea und Neukaledonien legt mit einem Stachel Eier direkt in die Erde. «Malaiische Riesenstabschrecken hingegen, die gerne im Licht sitzen, lassen die Eier einfach auf den Boden fallen», sagt Franziska Dreier. Das grosse, grüne Tier sitzt an einem Brombeerblatt. Erst bei genauem Hinsehen entpuppen sich die braunen «Zweige» daneben als männliches Tier. Franziska Dreier erklärt: «Ausser bei den Dorngespensterschrecken sind die Männchen überall kleiner.»

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Auch die Peruanische Samtschrecke fällt kaum auf, doch mit der Zeit wird das Auge geschult auf skurrile Insektenformen. «Diese Art ist vom Aussterben bedroht, sie hält sich gerne dort auf, wo es dunkel ist, und frisst nur Liguster.» Der Insektenwald ahmt ein Gebiet um den Tropengürtel nach, mit Temperaturen zwischen 22 und 25 °C und einer Luftfeuchtigkeit von etwa 70 Prozent. Die automatische Lüftung speise die Feuchtigkeit gleich ein. Bei der kurzen Lebensdauer der Tiere ist eine stete Vermehrung notwendig.

Geisselspinnen in einer Höhle

Ziel sei, dass sich die Insekten im Schaubereich selbst vermehren. Im Februar waren etwa 130 Individuen frei im Raum. Nun im April sind es schon um die 500. «Wir zählen sie, so gut es geht», sagt Franziska Dreier. Hinter den Kulissen läuft die Zucht auf Hochtouren. Angrenzend an den begehbaren Insektenwald krabbeln junge Stabschrecken und Käfer verschiedener Arten in23 Terrarien. Alles ist peinlich sauber gehalten. Bei den Schrecken stehen meist Brombeerzweige in einem Wasserglas. Rosengewächse sind begehrt bei den Insekten.

In einem Terrarium wuseln Geisselspinnen. «Sie sind völlig harmlos», erklärt Franziska Dreier. «Sie werden unsere Höhle bewohnen.» Zum Insektenwald gehört nämlich eine künstlich geschaffene Höhle. Das ist das Reich einer asiatischen Geisselspinnenart, die sich von Insekten wie Asseln ernährt. Die Spinnen können zehn Jahre alt werden.

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Insekten leben verborgen, der Zoo Zürich rückt sie in den Fokus. «Wir schaffen mit den tropischen Arten einen Link zur einheimischen Insektenwelt», erklärt Dominik Ryser, Mitglied des Kaders des Zoos Zürich. Vor dem Insektenwald wird mit Naturwiesen, Blütenpflanzen und Insektenhotels darauf hingewiesen, was konkret für Insekten gemacht werden kann. «Die Insektenwelt macht einen wichtigen Teil unseres Ökosystems aus. Viele sterben vor unseren Augen aus», mahnt Dominik Ryser. Der Zoo nutzt die Raubtiere als Magnet, um die Besuchenden auch auf Insekten aufmerksam zu machen. Zappelnde Tausendfüssler und bizarre Stabschrecken gehören genauso zur Tierwelt wie Schneeleoparden und Tiger.