Mögliche Nebenwirkungen
Kastration kann kontraproduktiv wirken
Viele Hundehalter tun sich schwer, wenn es um die Frage der Kastration geht. Welche medizinischen Folgen hat der Eingriff und wann kann er das Problemverhalten des Hundes positiv beeinflussen?
Die meisten Hundehalter müssen sich früher oder später entscheiden, ob sie ihren Vierbeiner kastrieren lassen. Das Thema ist allerdings ebenso kontrovers wie komplex und bringt viele Hundebesitzer in einen Zwiespalt. Dies umso mehr, da sich selbst die Experten nicht in jedem Punkt einig sind.
Worüber Gewissheit herrscht: Eine prophylaktische Entfernung der Hoden beziehungsweise der Eierstöcke kann medizinische Vorteile wie Nachteile nach sich ziehen. Zwar soll sie je nach Kastrationszeitpunkt das Risiko von Mamatumoren – eine der häufigsten Krebsarten bei Hündinnen – verringern. Wie stark eine vorbeugende Kastration allerdings vor Brustkrebs schützt, ist unklar.
Es gibt eine Vielzahl an medizinischen Gründen, die eine Kastration zwingend notwendig machen. Dazu zählen Erkrankungen der Geschlechtsorgane wie zum Beispiel Scheinschwangerschaften und Gebärmutterentzündung oder -vereiterung bei der Hündin sowie Tumore an den Hoden oder Prostatavergrösserung beim Rüden.
Ohne eine medizinische Indikation empfehlen die meisten Tierärzte eine Kastration erst nach Abschluss der Pubertät (durchschnittlich zwischen dem 12. und 24. Monat; bei manchen Rassen auch später). Ein früherer Eingriff in die hormonelle Entwicklung kann unter Umständen zu körperlichen Problemen (Bewegungsapparat, Herz-Kreislauf-System) führen und das (Lern-)Verhalten des Hundes negativ beeinflussen.
Kastration kann kontraproduktiv wirken
Immer noch denken viele Hundehalter insbesondere dann über eine Kastration nach, wenn ihr Hund Aggressionsverhalten zeigt. Die Frage, ob eine Kastration hier helfen kann, hängt massgeblich von den Ursachen ab. Sind die Verhaltensweisen erlernt oder das Resultat einer fehlenden Erziehung, wird eine Kastration die Probleme nicht verbessern beziehungsweise in manchen Fällen sogar noch verschärfen.
Letzteres gilt insbesondere bei cortisolgesteuerten Verhaltensweisen wie zum Beispiel einer Angstaggression. «Ein sehr häufiger Auslöser für Aggression ist Angst. Panik- und Angstreaktionen stehen unter der Kontrolle des Stresshormons Cortisol», so die Tierärztin und Buchautorin Sophie Strodtbeck. Das männliche Sexualhormon Testosteron hemme die Cortisolausschüttung, wirke angstlösend und steigere das Selbstbewusstsein. «Nimmt man es weg, werden diese Tiere noch unsicherer, was zu einer Verschlimmerung des Verhaltens führt», erklärt Strodtbeck.
[IMG 2]
Eine Kastration könne laut der Tierärztin nur dann eine Verbesserung bewirken, wenn das gezeigte Verhalten wirklich hormongesteuert ist. Dies gilt auch mit Blick auf Status- und Territorialaggressionen sowie bei Anzeichen von Hypersexualität (siehe Box).
Wer unsicher ist, ob das Verhalten seines Hundes sexuell motiviert ist oder nicht, kann vor dem chirurgischen Eingriff einen Testlauf mit einem Kastrationschip durchführen. Das Implantat imitiert den hormonellen Zustand einer Kastration und gibt einen guten Eindruck, wie sich der Hund ohne Einfluss von Sexualhormonen verhält.
Sexualverhalten führt zu Stress und Frust
Weil das Sexualverhalten rein hormonell bedingt und nicht erlernt ist, könne man ihm kaum mit Erziehung entgegenwirken, erklärt Dr. Ute Blaschke-Berthold, dipl. Biologin, Trainerin und Verhaltenstherapeutin.
Das Sexualverhalten, das durch Duftstoffe getriggert wird, setzt den Rüden unter akuten und chronischen Stress. Denn: Obwohl er hormonell zur Fortpflanzung stimuliert wird, darf er das Verhalten in den seltensten Fällen bis zur Kopulation ausführen. «Dies führt zu Frust, der die Türen öffnet für Aggressionsverhalten oder exzessives und repetitives Verhalten wie Pfotenlecken, Schwanzjagen, Buddeln oder Bellen», so Blaschke-Berthold.
Versuche der Mensch dann, dieses Verhalten gegebenenfalls durch aversive Massnahmen abzustellen, könne der Hund weiter in eine Spirale der Angst geraten, die sein emotionales Wohlbefinden stört und in problematisches Verhalten mündet.
Eine Kastration könne den Hund aus dem Teufelskreis herausholen. Sie dürfe aber niemals «als das eine Allheilmittel, sondern immer nur als begleitende Massnahme im Einzelfall verstanden werden, die eine Verhaltensänderung erleichtert und die Lebensqualität des Hundes verbessert», unterstreicht die Expertin.
«Kastration ist kein Radiergummi»
Auch dürfe man nicht vergessen, dass eine Kastration zwar die Sexualhormone ausschalte. Andere Ursachen für das Verhalten wie Auslöser und Erfahrung blieben jedoch bestehen. «Kastration ist kein Radiergummi», betont Blaschke-Berthold.
Viele Rüden, die wegen Aggressionsverhalten gegenüber anderen unkastrierten Rüden kastriert wurden, könnten diese zum Beispiel auch nach der Kastration nicht leiden. Das Aggressionsverhalten sei dann vielleicht nicht mehr ganz so drastisch. «Wirkliche Sicherheit aber bringen nur Beobachten und sorgfältiges Training zur Verhaltensunterbrechung durch Entspannungssignal und Umorientierung.»
Mögliche Nebenwirkungen
Inkontinenz: Vor allem bei Hündinnen über 20 Kilogramm (Risikorassen: Boxer, Dobermann, Riesenschnauzer, Rottweiler, Bobtail, Weimaraner, Irish Setter, Springer Spaniel)
Fellveränderungen: Bei langhaarigen und/oder rötlichen Hündinnen (z.B. Irisch Setter, Spaniel, Eurasier) vermehrtes Wachstum der Unterwolle (sogenanntes «Babyfell»); bei Rüden stumpferes, flauschigeres Fell
Gewichtszunahme: Durch um zirka 30 Prozent verminderten Energiebedarf und fehlende appetitdämpfende Wirkung der Geschlechtshormone
Tumore: Bei Hündinnen erhöhtes Risiko für (meist gutartige) Tumore an After und Schliessmuskel (Perianaltumore); bei beiden Geschlechtern Tumore an Milz, Herz und Knochen. ABER: Frühkastrationen (vor erster Läufigkeit) reduzieren das Brustkrebsrisiko!
Bewegungsapparat: Bei jungen Hunden wird der Schluss der Wachstumsfugen verzögert. Dies kann zu Gelenkfehlbildungen und -schäden führen (je früher die Kastration, desto grösser das Risiko); Kreuzbandrisse
Altersdemenz: Durch den Wegfall des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen (beim Rüden wird dieses aus dem Testosteron gebildet) werden Ablagerungen im Gehirn langsamer abgebaut. Folge: Orientierungslosigkeit, Vergesslichkeit, Nervosität, Aggressivität, Schlafstörungen
[IMG 3]
Aufreiten: sexuell oder nicht?
Hundehalter sollten genau hinschauen, wenn der eigene Hund permanent Artgenossen besteigt. Oft handelt es sich dabei um eine Übersprungshandlung, die dem Stressabbau in einer Konfliktsituation dient. In dem Fall würde eine Kastration das Aufreiten nicht unterbinden, sondern möglicherweise sogar verschlimmern. Anders sieht es aus, wenn es rein sexuell motiviert ist. Folgende Anzeichen deuten darauf hin:
- Der Hund beschnüffelt oder beleckt sein Gegenüber ausgiebig am Anal- und Genitalbereich.
- Er sondert zähflüssigen Speichel ab, klappert mit den Zähnen und kräuselt die Oberlippe.
Bitte loggen Sie sich ein, um die Kommentarfunktion zu nutzen.
Falls Sie noch kein Agrarmedien-Login besitzen:
Jetzt registrieren