Wer sich an seine Kindheit erinnert, könnte sich denken: Es gibt heute in der Schweiz viel mehr Tiere als damals. Wer dabei vor allem die grossen Säugtiere im Sinn hat – und das sind wohl die Meisten –, hat damit auch Recht. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren in unserem Land fast alle von ihnen ausgerottet und kehrten dann, dank Schutzmassnahmen oder Wiederansiedlungen, zaghaft zurück.

Mittlerweile sind die Rothirschbestände so gross, dass die Jäger nicht mehr hinterherkommen. Die vor zwanzig Jahren zurückgekehrten Wölfe allerdings freuts. Auch Wildschweine gibt es heute zahlreich und die Zeiten, in denen man nie einen Biber oder zumindest dessen Spuren sah, sind definitiv vorbei. Steinböcken und Gämsen begegnet man auf fast jeder Wanderung. Die Wildkatze konnte ihre besiedelte Fläche im Jura in den letzten zehn Jahren verdoppeln (die «Tierwelt» berichtete) und der Fischotter erobert sich langsam, aber sicher seine Gewässer zurück. Ganz neu dazugekommen ist der Goldschakal, der sein Verbreitungsgebiet von Südosteuropa her ausdehnt und auf natürliche Weise eingewandert ist.

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Den Kleinen geht es nicht so gut
Dieser Eindruck aber täuscht, wie der im März im Haupt Verlag erschienene neue «Atlas der Säugetiere – Schweiz und Liechtenstein» zeigt. 99 Säugetierarten sind in der Schweiz zuhause. 88 davon gelten als einheimisch, 11 «exotische» Arten wie der Marderhund oder das Streifenhörnchen Burunduk wurden ausgesetzt oder entkamen aus Gefangenschaft. Von diesen 99 Arten gehört der allergrösste Teil nicht zu den grossen Huftieren oder Fleischfresser. Vielen der 30 Fledermäusen, 27 Nagetieren, 14 Insektenfressern und 4 Hasenartigen ist es in den letzten beiden Jahrzehnten nicht so gut ergangen.

Sie sind nämlich oft auf eine intakte Insektenfauna als Nahrung angewiesen, auf strukturreiche Lebensräume und eine extensive Landwirtschaft. Auch der Klimawandel macht ihnen zu schaffen und im Fall der Fledermäuse die Tatsache, dass Dunkelkorridore fehlen, durch die sie hindurchfliegen können. «Die grösseren Säugetiere sind dank der Hilfe der Menschen in den letzten Jahrhunderten zurückgekehrt», schreibt Reinhard Schnidrig, Leiter der Sektion Wildtiere und Artenförderung beim Bundesamt für Umwelt Bafu, in seinem Vorwort. «Nun müssen wir alles unternehmen, dass die kleineren, unscheinbareren Arten nicht verschwinden.»

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Expertinnen und Laien
Über 70 ausgewiesene Autorinnen und Autoren waren an diesem einzigartigen neuen, auch auf Französisch und Italienisch verfügbaren Werk beteiligt. Die Beobachtungen von Laien und Citizen Scientists flossen ebenfalls mit ein. Die Schweizerische Gesellschaft für Wildtierbiologie (SGW) koordinierte das Projekt und ruft auch weiterhin dazu auf, Säugetiere zu melden (wo man das tun kann, erfahren Sie hier).

Jeder Säugetierart widmet das Buch vier Seiten voller Informationen über Lebensweise, Ansprüche an den Lebensraum und allfällige Bedrohungen. Bei den Verbreitungskarten wurde bewusst auf einen Vergleich mit 1995 verzichtet, da es heute viel mehr Beobachterinnen und Beobachter gibt als damals, was das Bild verzerren würde. In 15 Fokuskapiteln wird auf verschiedene Natutschutz-Themen eingegangen, darunter zum Beispiel auf das Problem der Lichtverschmutzung oder die Bedeutung einer Kulturlandschaft mit vielen Kleinstrukturen. Für Säugetierfans und eigentlich überhaupt alle Naturliebhaberinnen und Naturliebhaber ist dieses Buch ein absolutes Muss.

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Schweizerische Gesellschaft für Wildtierbiologie:
«Atlas der Säugetiere – Schweiz und Liechtenstein»
1. Auflage 2021
gebunden, 488 Seiten, rund 420 Fotos, 120 Karten und 160 Diagramme
Verlag: Haupt
ca. 98.- Franken, aktuell 78.- Franken
ISBN: 978-3-258-08178-6