Kaum eine Erkrankung scheint in der Psychologie so umstritten wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) – sowohl bei Kindern als auch bei Hunden. Während die einen ihren quirligen Schützling mit Ritalin ruhigstellen, sehen die anderen lediglich einen normalen kleinen Wildfang, der nicht in den bequemen, digitalisierten Alltag des 21. Jahrhunderts passt.  

«Oft handelt es sich um ein normales Verhalten, das aber vom Besitzer als unnormal empfunden wird», sagt Anneli Muser Leyvraz, Präsidentin der Schweizerischen Tierärztlichen Vereinigung für Verhaltensmedizin (STVV). Soll heissen: Wenn der Hund von morgens bis abends alleine in der Wohnung ohne Beschäftigung hockt, muss sich Herrchen nach Feierabend nicht wundern, wenn der Vierbeiner ihn den ganzen Abend in Beschlag nimmt. 

Muser Leyvraz kennt aber auch die pathologische Variante. Hunde, vermehrt agile Arbeitshunde wie Labradore und Terrier, die sich «wie eine aufgezogene Wespe» verhalten. Sie berichtet von Fällen, bei denen der Hundebesitzer ständig gezwickt wurde – blaue Flecken, blutige Kratzer und kaputte Kleidung waren die Folge. Solche krankhaft hyperaktiven Tiere springen auf jeden Reiz an und steigern sich derart in etwas hinein, dass sie kein Ende finden. Manchmal entwickeln sie Zwangshandlungen wie permanentes Pfotenlecken oder nuckeln ständig an Stofftieren. Dabei sind sie völlig abwesend, kaum ansprechbar. 

Fehlender Filter
Man spricht bei Hunden von einer Hyperaktivitätsstörung, der Begriff ADHS umschreibt die Problematik allerdings recht passend. Während das Aufmerksamkeitsdefizit (AD) die mangelnde Fähigkeit meint, sich auf eine Sache konzentrieren zu können, beschreibt die Hyperaktivitätsstörung (HS) den Zustand der Ruhelosigkeit. 

Hier fängt eine andere Kontroverse an: Denn wer definiert, was Ruhe bedeutet? Während es für viele Menschen Entspannung pur bedeutet, stundenlang am Strand zu liegen, stürzen sich andere lieber in die Wellen. Während ein Bernhardiner gerne stundenlang vor sich hin döst, will ein Schäferhund aktiv und gefordert sein. Bevor man bei Lebhaftigkeit überschnell auf ADHS schliesst, sollte man sich über den Charakter und das Temperament des Hundes informieren.

Erst wenn der Tierarzt Vernachlässigung, Unterforderung beziehungsweise zu geringe Beschäftigung und andere Ursachen wie körperliche Leiden, Stoffwechselstörungen oder neurologische Erkrankungen ausschliessen kann, muss man von einer pathologischen Verhaltensstörung ausgehen. Nun geht es darum, nach der Ursache zu suchen, warum der Hund nicht zur Ruhe kommt. Oft sind Stress auslösende Faktoren in der Umgebung zu finden; Geräusche oder Gerüche, die für den Menschen nicht störend, für den Hund aber enorm belastend sind. 

Neben genetischen Faktoren – beispielsweise haben Hüte- und Wachhunde einen geringen Reizfilter, da sie darauf gezüchtet wurden, kleinste Veränderungen in der Umgebung zu erkennen – spielt es eine grosse Rolle, wie das Tier aufgewachsen ist. Manche Muttertiere sind mit zu vielen Welpen (mehr als sechs) überlastet oder sind zu unerfahren, um sich um alle zu kümmern. Das kann dazu führen, dass ihre Welpen in den ersten Monaten ihres Lebens nicht lernen, ihre Emotionen und Bewegungen zu kontrollieren. 

Spielerische Übungen
Für eine Therapie gibt es wie in der Menschenwelt kein Allheilmittel. Umso entscheidender ist der Faktor Zeit. Denn, so Anneli Muser Leyvraz: «Je früher man mit der korrekten Therapie beginnt, desto grösser ist die Chance auf Erfolg.» Sie empfiehlt, sich bei Verdacht auf eine krankhafte Hyperaktivität direkt an einen Verhaltenstierarzt zu wenden. Dieser kann Hundetrainer oder -psychologen einbeziehen, sollte aber der erste Ansprechpartner sein, da für eine erfolgreiche Behandlung eine Kombination von Verhaltenstraining und Medikamenten nötig ist. 

Wichtig sind Übungen, bei denen das Tier lernt, sich zu beherrschen und sich auf etwas oder jemanden zu konzentrieren. Das fängt mit Grundübungen wie «Sitz» und «Platz» an. Einem Hund, der plötzlich anfängt wild umherzuspringen, zu zwicken und zu kläffen, kann man versuchen, ein alternatives Verhalten beizubringen. Hat der Halter eine potenzielle Gefahrensituation wie eine befahrene Strasse rechtzeitig erkannt, kann er das Signal zum «Bei-Fuss-Gehen» geben und die Aufmerksamkeit seines Vierbeiners auf sich ziehen. Damit gewinnt der Halter das Vertrauen des Hundes und hat im Optimalfall ein Tier, für das er stets im Fokus steht. Ebenso kann es helfen, beim Spaziergang Denksportaufgaben und Suchspiele einzubinden. 

Tabu sind laut Muser Leyvraz Bestrafungen; sie seien kontraproduktiv und gefährlich und oft erst die Ursache für Ängstlichkeit und  Überreaktionen. «Der Hund kann schliesslich nichts für sein Verhalten, er macht es nicht extra, sondern hat es schlichtweg nicht anders gelernt.»