Eine amerikanische Studie sorgt derzeit für Aufsehen in der Hundewelt. Forscher haben über 2500 Jagdhunde der ungarischen Rasse Vizsla auf die Risiken und den Erkrankungsbeginn von Krebs und Verhaltensstörungen durch Kastrationen hin untersucht. Mit scheinbar schockierenden Ergebnissen: Vieles, was bisher als Vorteil der Kastration galt, wendet sich ins Negative. 

Statt Krankheiten wie  Brust-, Eierstock- und Prostatakrebs mit einer Kastration zu reduzieren und Verhaltensprobleme der Hunde zu verringern, steigen die Risiken dafür. Laut dem deutschen Tierarzt Ralph Rückert sogar so immens, dass das gesamte bisherige Kastrationskonzept in Frage gestellt werde. In einem Blogbeitrag bezieht er sich auf diese und andere Studien und schreibt, dass kastrierte Tiere beiderlei Geschlechts ein erhöhtes Risiko aufwiesen, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, und das auch noch zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als unkastrierte Artgenossen. 

Ein Umdenken ist angesagt
«Auch Verhaltensstörungen, vor allem die Angst vor Gewittern, kamen bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vor», schreibt Rückert. Und das ist längst nicht alles. Auch Prostata- und Milztumore, Schilddrü­senunterfunktionen, Inkontinenz sowie orthopädische Probleme wie Kreuzbandrisse und Hüftdysplasie würden bei Kastraten öfter auftreten. Daher sei ein Umdenken angesagt und eine Kastration nicht mehr ohne Weiteres zu vertreten.

Rückendeckung bekommt er unter anderem von der Tierärztin Sophie Strodtbeck, die vor allem durch ihre journalistischen Tätigkeiten sowie durch Seminare an Hundeschulen auch in der Schweiz bekannt ist. Sie bezieht sich in ihren Überlegungen auf die erwähnte Studie, aber auch auf andere, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Auf die vermeintlichen Vorteile einer Kastration angesprochen, sagt sie etwa zum Brustkrebsrisiko, dass es lediglich eine Untersuchung aus dem Jahr 1969 gäbe, die von einer signifikanten Verminderung um 80 Prozent spricht und daher immer wieder herangezogen werde, um Kastrationen zu rechtfertigen. Alle neueren Studien würden dies nicht bestätigen. Auch das Risiko für Prostatakrebs werde durch eine Kastration erhöht, eine Behandlungsoption sei der Eingriff nur bei der gutartigen Pros­tatavergrösserung. «Ein Eierstockskrebs kann natürlich nicht mehr auftreten, wenn keine Eierstöcke mehr da sind.»

Iris Reichler vom Tierspital Zürich sieht das Thema differenzierter. Sie hat selbst kastrierte sowie unkastrierte Hunde und warnt davor, Studienergebnisse einseitig auszulegen. So war etwa eine bedeutende Feststellung in der genannten Vizslastudie, dass die Lebenserwartung kastrierter und unkastrierter Hündinnen gleich ist. Ausserdem ging es lediglich um die Nachteile einer Kastration, mögliche Vorteile wurden nicht erfasst. Ebenfalls sollte laut Reichler stets der Studienaufbau hinterfragt werden, da auch andere Faktoren das erhöhte Erkrankungsrisiko erklären können, etwa, wie der Hund gehalten wird, sowie die Art der Fragestellung – es handelt sich oft und auch in diesem Fall nämlich um eine Umfrage. Aus der Fragestellung ergibt sich beispielsweise nicht, ob Halter von Kastraten, die ohne Erkrankung alt wurden, gleichermassen von der Umfrage angesprochen wurden wie Halter von Kastraten mit Tumorerkrankungen. 

Ein weiterer Punkt, warum Kastrationsstudien kritisch zu sehen sind, ist laut Reichler das Verhalten der Zweibeiner. Verhalten sich Hundebesitzer, die sich für die Kastration entscheiden, gleich wie Hundebesitzer, die sich dagegen entscheiden? Vielleicht sucht die eine Gruppe häufiger einen Tierarzt auf, verwendet häufiger Antiparasitika oder füttert anders? Vielleicht informiert sich die eine Gruppe besser über die Haltung des Hundes im Jugendalter als die andere? Alles Einflüsse, die das Krankheitsrisiko beeinflussen. 

Des Weiteren könne man nicht alle Rassen über einen Kamm scheren. «Diese Untersuchung wurde nur für Vizslas gemacht», sagt Reichler, «daraus Schlussfolgerungen für andere Rassen zu ziehen ist falsch.» Dies beweise auch die 2013 veröffentlichte Studie über die gesundheitlichen Langzeitfolgen von kastrierten Hunden im Vergleich von Labrador Retrievern und Golden Retrievern. Derzufolge gibt es selbst für diese nah verwandten Rassen Risikounterschiede. Generell soll die Kastration beim Labrador weniger negative Auswirkungen auf das Tumorrisiko haben.

Entspannter oder aggressiver?
Die Folgen einer Kastration lassen sich auch am Verhalten der Tiere festmachen. Während die einen davon profitieren und keine hormonellen Stimmungsschwankungen während der Läufigkeit mehr durchleben müssen, werden die anderen ängstlicher. «Angst wird sich durch eine Kastration verstärken, weil man den hormonellen Gegenspieler des Stresshormons Cortisol ‹herausoperiert›», sagt Strodtbeck. «Das Cortisol, das an Angst, Stress und Panik beteiligt ist, hat freie Bahn und das selbstbewusst machende und angstlösende Sexualhormon Testosteron wirkt dem nicht mehr entgegen.» Bei der Hündin sei es ähnlich, da Östrogen ebenso angstlösend wirkt. 

Doch was ist mit dem vermeintlichen Vorteil, dass Kastraten im Umgang mit Artgenossen entspannter seien? Das sieht Strodtbeck anders: «Cortisolgesteuertes Verhalten wie es auch die Leinen- oder Territorialaggression sein kann, wird sich verschlimmern. Hündinnen, die sowieso etwas ruppig sind, werden es danach noch mehr, weil die sanft machenden Östrogene wegfallen. Bei ihnen verschlimmert sich zum Beispiel auch die Ressourcenaggression, das Verteidigen von Futter und Ähnlichem, was nachgewiesen ist.»

Warten, bis die Pubertät vorbei ist
Allerdings spricht eine 2002 im deutschen Bielefeld durchgeführte Studie eine andere Sprache. Damals wurden 1000 Halter von kastrierten Hunden befragt. Dabei stellte sich heraus, dass über die Hälfte der Tiere ausgeglichener sind als vor der Operation, ein Drittel der Rüden sogar gehorsamer und weniger aggressiv gegenüber Artgenossen. Hierbei zeigte sich aber auch, dass viele Tiere, die im ersten Lebensjahr kastriert wurden, eher aggressiv werden. Ein wichtiger Punkt bei der Entscheidungsfindung.

Wenn Kastration, dann erst, nachdem der Hund die Pubertät hinter sich hat. Immerhin darin sind sich die meisten Tierärzte einig. Bei einigen Rassen muss man sich allerdings gedulden. Der Boston Terrier ist beispielsweise erst mit drei Jahren ausgewachsen. Dennoch: «Die Pubertät ist wichtig für die Entwicklung des Hundes – er wird erwachsen, souveräner und rationaler in seinem Verhalten», sagt Strodtbeck. Aber auch hier gibt es wieder zwei Seiten der Medaille, denn Frühkastrationen reduzieren das Brustkrebsrisiko.

Letztlich müssen Halter von Fall zu Fall über eine Kastration entscheiden – natürlich nach ausführlicher Beratung. Eine Pauschallösung gibt es nicht.