Tagelang sass Rocki in der Ecke hinter dem Esstisch, hatte keinen Appetit, wollte nicht spielen und liess die Zeit an sich vorüberziehen. Es schien, als sähe der Rüde keinen Sinn mehr in seinem Leben, als habe er seinen Antrieb verloren. Vorausgegangen war der Tod seines Spielgefährten, des zweiten Hundes der Familie. Ist es eine gewöhnliche Trauer, die Rocki an den Tag legt? Eine Phase, die wieder vergeht? Oder bereits eine Depression, aus der er alleine nicht zu entkommen vermag? Aber können Hunde überhaupt trauern oder gar depressiv sein?

«Hunde können depressives Verhalten zeigen und auf den Verlust eines Bindungspartners in einer Art reagieren, die wir Menschen als Trauer bezeichnen würden», erklärt die Hunde-Verhaltenstherapeutin Sonja Doll. Als Ursache sieht die Winterthurerin aber eher eine Verunsicherung, die auf der veränderten Situation beruht. Zumal die verbliebenen menschlichen Familienmitglieder oft beim Hund Trost suchten und ihm gegenüber völlig anders auftreten, als er es gewohnt sei. «Menschen sind erst im Alter von circa sechs Jahren in der Lage, die Endgültigkeit des Todes zu erfassen. Wir haben keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Hunde diese komplexe kognitive Leistung erbringen können», sagt die Ethologin. 

Trauer kann Jahre dauern
Hinzu kommt, dass Hunde – die einen mehr, die anderen weniger – sehr empathisch sind, feinste Gefühlsschwankungen ihres Halters nicht nur wahrnehmen, sondern zum Teil auch übernehmen. Sitzt Frauchen mit Tränen in den Augen regungslos auf dem Sofa, bleibt auch Bello stumm. Oder wie in diesem Fall eben Rocki. Der zweijährige Pekingesen-Mischling aus dem Aargau hat im Januar seinen Kumpan verloren, der nach einem Tierarztbesuch nicht wieder nach Hause kam. Bereits einen Tag später zog sich Rocki zurück, wollte nichts mehr essen und liess seine zuvor so geliebten Spielsachen unbeachtet. «Sonst hat er seine Plüschtiere immer in der ganzen Wohnung verteilt», erzählt seine Halterin. «Plötzlich sah er selbst aus wie ein Stofftier und zeigte keinerlei Regungen, ausser dass er sich viel leckte.» Auch die Freude, die er an Übungen in freier Natur oder in der Hundeschule gehabt hatte, war wie weggeblasen. 

Ein Blick in Rockis Historie zeigt warum: Der Rüde lebte die ersten acht Monate seines Lebens in einem Rudel, war also die Gesellschaft von Artgenossen gewohnt. Und auch als er in sein neues Zuhause kam, war er nicht der einzige Vierbeiner, sondern hatte einen Verbündeten, dessen Sprache er verstand, an dem er sich orientieren konnte. Doch von einem Tag auf den anderen musste Rocki nicht nur ohne ihn zurechtkommen, sondern dazu noch die seltsame Stimmung seine Frauchens interpretieren.

Erst jetzt, Monate später, rappelt er sich langsam auf, verlässt immer öfter seine ? Ecke und trägt wieder ab und zu seine Plüschtiere durch die Gegend. Aber woher wusste Rocki eigentlich so genau, dass sein Freund nicht wiederkommt? Lag es nur an Frauchens Traurigkeit? Hier darf man nicht die Fähigkeiten eines Hundes unterschätzen. Schliesslich riecht das Tier eine Million mal besser als der Mensch. So könne auch der Geruch seiner Halterin, die den toten Gefährten zuvor in ihren Armen hielt, die Gewissheit gegeben haben, schlussfolgert Sonja Doll. Fehlt eine solche Gewissheit, scheint das Loslassen für Hunde ebenso schwer wie für den Menschen.

Das bekannteste Beispiel ist wohl Hachiko aus Japan, der über zehn Jahre lang jeden Tag am Bahnhof auf seinen verstorbenen Herrn wartete. Er war es gewohnt gewesen, ihn dort nach der Arbeit in Empfang zu nehmen. Eines Tages kehrte sein Herrchen nicht zurück, der Akita-Hund war aber nicht vom Bahnhof wegzubewegen. Hachikos Tod im März 1935 kam landesweit in den Nachrichten und seine traurige Geschichte wurde 2009 mit Schauspieler Richard Gere als seinem Herrchen verfilmt.

Eine exakte Diagnose, ob es sich um eine depressive Verstimmung oder eine echte Depression handelt, ist schon bei Menschen schwierig zu stellen und bei Tieren nur durch ausgiebige Beobachtungen möglich. Denn das unter Zweibeinern übliche Patientengespräch fällt natürlich weg. Wer also einen niedergeschlagenen Hund zu Hause hat, sollte dem Tierarzt oder Tiertherapeuten alles über ihn erzählen, seine Lebensgeschichte sowie seine Eigenheiten und Vorlieben.

Dann geht es ans Beobachten: Ist der Gang des Hundes geschmeidig oder schlurfend? Ist er an seiner Umgebung interessiert? Lässt er häufig den Kopf hängen oder blickt er ins Leere? Knurrt er öfter als sonst und hechelt er beim Spielen eher? In Rockis Fall unterstützt sein ständiges Lecken Dolls Theorie der Verunsicherung. Denn kommen Hunde mit einer Situation nicht zurecht, gähnen, niesen, kratzen oder lecken sie sich. Manchmal wenden sie auch den Blick ab oder drehen einem ganz den Rücken zu. 

Unglückliche Hunde weinen nicht
Ursachen für eine Depression gibt es aber viele. «Schuld können auch chronische ?Stresszustände sein, eigentlich fast alle schweren körperlichen Erkrankungen – insbesondere wenn sie mit Schmerzen verbunden sind – oder auch organische Störungen wie eine Unterfunktion der Schilddrüse», erläutert Doll. Ausserdem gibt es die sogenannte endogene Depression, der ein gestörter Gehirnstoffwechsel zugrunde liegt. Hierbei besteht ein Mangel an Serotonin, Noradrenalin und anderen Botenstoffen, die für den Austausch von Informationen zwischen den Zellen der verschiedenen Gehirnregionen zuständig sind. Fehlen solche Transmitter, kann es zu Antriebslosigkeit und Schlafstörungen kommen sowie zu einer Herabstufung des eigenen Selbstwertgefühls. Wer glaubt, Hunde könnten aus Trauer weinen, der wird allerdings enttäuscht. Wenn Tränen fliessen, dann nur aufgrund von Zugwind, Fremdpartikeln im Auge oder extremen körperlichen Qualen. Auch neigen einige Rassen generell zu chronischem Tränenfluss.

Ebenso vielfältig wie die möglichen Ursachen sind die therapeutischen Massnahmen, die je nach Situation und Charakter des Hundes unterschiedlich aussehen. So können etwa Psychopharmaka, aber auch Pheromone, Bach-Blüten oder homöopathische Mittel eingesetzt werden; einzeln oder in Kombination. «Eventuell müssen die Hunde sogar Ferien von ihrem sozialen Umfeld haben, wenn die hinterbliebenen Familienmitglieder zu sehr in ihrer Trauer verhaftet sind», sagt die Hundepsychologin. Auch ein geregelter und abwechslungsreich gestalteter Tagesablauf, Kontakt zu Artgenossen, Kuscheleinheiten mit Herrchen oder Frauchen und Massagen könnten den Hund aus seiner Apathie herausholen.

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