Wenn von Wolfs- oder Daumenkrallen die Rede ist, dann meist in einem negativen Kontext. Oft sind es nämlich diese Krallen, die dem Hund Schmerzen bereiten und dem Halter teure Tierarztkosten bescheren. Um das Problem zu verstehen, hilft eine kleine Lehrstunde in Anatomie:

Man stelle sich einen Menschen im Vierfüsslerstand vor. Die Daumen befinden sich an der Innenseite der Hände, der grosse Zeh innen an den Füssen. Nun stelle man sich einen Hund vor, der von Natur aus auf allen vieren geht und dessen Knochenstrukturen denen des Menschen ähneln. Auch der Hund hat an den Händen, zu denen wir Vorderpfoten sagen, jeweils fünf Finger. Und sie sind genauso angeordnet wie beim Menschen, sodass sich der Daumen innen befindet. Beim Hund wird diese Kralle deshalb Daumenkralle genannt. Einen gravierenden Unterschied im Daumenvergleich gibt es aber doch: Seine Beweglichkeit ist beim Hund wesentlich eingeschränkter.

Wolfskrallen bleiben oft hängen
Stellen wir nun unsere Hände so auf, dass nur die Spitzen von Zeige-, Mittel-, Ringfinger und kleinem Finger den Boden berühren, bleibt der Daumen in der Luft. Er ist deutlich kürzer als die anderen Finger, da er nur aus zwei Knochen und einem Gelenk besteht, während bei allen anderen Fingern drei Knochen mit zwei Gelenken verbunden sind. Beim Hund ist das genauso. Die Daumenkralle hat beim Stehen und Gehen keinen Kontakt zum Boden. So kommt es, dass der Nagel sich nicht abreiben kann und im Laufe des Hundelebens länger und länger wird. Die Länge der Daumenkralle muss also regelmässig überprüft werden. Wird sie zu lang, könnte sie in die Haut einwachsen. Vorher sollte sie besser gekürzt werden.

An den Hinterbeinen schaut die Sache ähnlich aus. Der Hund läuft auch hier auf den Spitzen von vier Zehen. Der entscheidende Unterschied zu den Vorderpfoten besteht aber darin, dass der grosse Zeh bei fast allen Hunden fehlt. Er hat sich im Lauf der Evolution verabschiedet. Manchmal kommt es aber vor, dass dieser grosse Zeh in einer abgeschwächten Form wieder auftaucht. Er wird dann als After- oder Wolfskralle bezeichnet.

Bei einigen Rassen wie dem Berger de Brie oder dem Kuvasz sind Wolfskrallen erwünscht, in der Regel sind sie aber nicht gern gesehen. Anders als die Daumenkrallen sind Wolfskrallen fast nie über Knochen und Gelenke mit dem Körper verbunden. Meist ist es nur ein Fetzen Haut, an dem die entbehrliche Zusatzkralle hängt. Weil sie sich in derart exponierter Position befindet, bleibt die Wolfskralle beim Laufen immer wieder an Holzstücken, in Gittern, im Gestrüpp oder an Zäunen hängen. Reisst sie ab, weil sich der Hund gerade in voller Fahrt befindet, kann die Wunde extrem stark bluten. Ausserdem sind diese Verletzungen für den vierbeinigen Patienten sehr schmerzhaft.

Deshalb war es eine Weile lang Mode, die Wolfskrallen vorsorglich entfernen zu lassen. Das Schweizer Tierschutzgesetz erlaubt es bis heute, dass fachkundige Personen einem Welpen bis zum Alter von vier Tagen ohne Betäubung die Wolfskrallen an den Hinterläufen entfernen dürfen, in Deutschland hingegen ist das verboten. Im Einzelfall empfiehlt es sich, mit dem Tierarzt zu besprechen, ob eine Entfernung der Kralle sinnvoll ist. In der Regel wird auf die Amputation verzichtet, solange die Wolfskralle keine Beschwerden macht und nicht verletzt ist. In jenen Fällen, in denen die Verbindung zum Hundebein nicht nur über einen Hautlappen, sondern über feste Strukturen erfolgt, kann sich die Entfernung sogar als recht schwierig erweisen.

Kommt es zu einer Verletzung der Wolfskralle, entscheidet der Tierarzt über die weitere Vorgehensweise. Eine vollständige Entfernung ist eine Option, zuerst gilt es aber, die Blutung zum Stillstand zu bringen. Da sich die Wunde leicht entzünden kann, benötigt der Patient in vielen Fällen zusätzliche Medikamente und einen Verband.

Kralle zum Klemmen
Viele Hundebesitzer wundern sich darüber, dass die Daumenkralle bis heute allen Hunden erhalten geblieben ist. Es scheint, als habe auch sie keine Funktion. Doch wer einen Hund beobachtet, wie er etwa eine Knabberstange geschickt zwischen den Vorderpfoten einklemmt, dem wird klar, dass genau sie zum Fixieren von Futter eingesetzt wird. Inwiefern sie sogar Stabilität beim Laufen gibt, wird noch diskutiert.

Trotzdem ist auch die Daumenkralle manchen Menschen ein Dorn im Auge. Besitzer von Windhunden wie Whippets oder Greyhounds befürchten mitunter eine erhöhte Verletzungsgefahr bei den Rennen. In Insiderkreisen wird berichtet, dass es bis heute Züchter gibt, die Daumenkrallen von Windhunden trotz Verbots entfernen – teilweise nur mit einem Scherenschlag. Doch grundsätzlich gilt für alle Zehen: Ihre Entfernung ist eine Amputation, braucht einen medizinischen Grund und sollte nur unter Betäubung und von einem Tierarzt vorgenommen werden. Woher die Wolfskralle ihre Bezeichnung bekam, ist im Übrigen nicht ganz klar. Wölfe haben jedenfalls keine.

Fünf-Finger-Prinzip bei allen Wirbeltieren
Aus evolutionärer Sicht haben alle Wirbeltiere seit dem Zeitpunkt, als sie vor mehr als 300 Millionen Jahren das Land eroberten, an ihren Händen fünf Finger. Warum es ausgerechnet fünf sind, ist bis heute ein Rätsel. Von den fünf Fingern ausgehend haben sich alle Spezialfälle der Hände und Füsse weiterentwickelt – von den Klauen einer Kuh bis hin zu den Flügeln eines Huhns. Durch nur kleine Änderungen im Erbgut entscheidet sich, wie sich die Finger entwickeln, welche verschwinden, welche sich Zusammenschliessen – das Röhrbein des Pferdes besteht beispielsweise aus Anteilen des zweiten und dritten Fingers – oder welche länger werden. Je nachdem, welchen Zweck die Hände erfüllen sollten, prägten sich Pfoten, Hufe, ­Flossen oder Klauen aus. Doch die Grund­struktur, die von fünf Fingern ausgeht, lässt sich bis heute bei allen Wirbeltieren darstellen.