Ein Welpe ist vor wenigen Tagen bei den Wiesners eingezogen. Der süsse Toy Terrier ist neun Wochen alt und stellt das gesamte Familienleben auf den Kopf. Oscar heisst der drollige Vierbeiner, der an diesem Tag zum ersten Mal beim Tierarzt vorgestellt wird. Ingrid Wiesner möchte den neuen Mitbewohner gründlich durchchecken lassen. Im Zuge der allgemeinen Untersuchung tastet der Tierarzt auch die Geschlechtsteile des kleinen Oscar ab. Plötzlich fällt der Satz: «Ein Hoden ist nicht da.»

Wer sich zum ersten Mal im Leben einen Hund anschafft und sich für einen Rüden entscheidet, macht bisweilen beim ersten Tierarztbesuch grosse Augen. Von fehlenden oder versteckten Hoden haben die meisten frischgebackenen Tierbesitzer noch nie gehört. Auch Wiesner erging es so. Keine Sekunde hätte sie vermutet, dass mit Oscar etwas nicht stimmen könnte.

Tatsächlich dürfte etwa jeder achte Hund am sogenannten Kryptorchismus leiden. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, bei dem die Hoden nicht im Hodensack, sondern im Inneren des Körpers zu finden sind. Manchmal sind beide Hoden betroffen, in der Mehrzahl der Fälle aber nur einer. Auffallend ist, dass bestimmte Rassen häufiger zu Kryptorchismus neigen als andere. Chihuahuas, Malteser, Zwergpudel oder Yorkshire Terrier zählen wie Minihunde im Allgemeinen zu den gefährdeteren Kandidaten. Bei den grösseren Rassen sind Boxer oder Schäferhunde überdurchschnittlich oft betroffen, bei Mischlingen kommt Kryptorchismus seltener vor.

Die Wanderung kann dauern
Die Ursache der Hodenfehllage liegt im Embryonalstadium begründet. Die Hoden entwickeln sich im Anfangsstadium des neuen Lebens ganz nah bei den Nieren. Erst nach und nach bewegen sie sich entlang eines speziellen Bandes in den für sie vorgesehenen Hodensack hinein. Dieser Vorgang wird als Hodenabstieg bezeichnet. Er ist von der Evolution aus dem einfachen Grund vorgesehen, weil es für die Bildung von Spermien im Inneren des Körpers schlichtweg zu warm ist. Damit die Hoden ihrer Aufgabe nachkommen können, brauchen sie kühlere Temperaturen, die im Hodensack gegeben sind.

Die Wanderung der Hoden in den für sie vorgesehenen Sack dauert. Sie beginnt etwa in der Mitte der Trächtigkeit und sollte 14 Tage nach der Geburt des kleinen Rüden abgeschlossen sein. Ist nach spätestens acht Wochen nur ein Hoden im Hodensack zu finden, ist das Hundebaby ein Kryptorchide, und es beginnt die Suche nach dem zweiten versteckten Fortpflanzungsorgan. In der Hälfte der Fälle ist es in der Bauchhöhle, in der anderen Hälfte im Leistenkanal aufzufinden. Je nach Lokalisation spricht man von Bauchhoden oder Leistenhoden. Ist gar kein Hoden tastbar, befinden sich beide meistens im Bauchraum. Rüden, die gänzlich ohne Hoden zur Welt kommen, sind äusserst selten.

Ein Bauchhoden kann besonders gefährlich werden. Studien zeigen, dass aufgrund der für ihn zu hohen Umgebungstemperatur das Risiko einer tumorösen Entartung etwa 14-fach erhöht ist. Solche Tumore können Hormone produzieren, die weitere Komplikationen hervorrufen. Es empfiehlt sich daher zwingend, Bauchhoden mit einer Operation entfernen zu lassen.

Leistenhoden müssen, wenn sie nicht entfernt werden sollen, zumindest regelmässig kontrolliert werden, da auch sie einer zu hohen Umgebungstemperatur ausgesetzt sind. Gelegentlich werden auch noch spätere, spontane Abstiege in den Hodensack beobachtet. Besitzer entscheiden sich aber auch in diesem Fall meist für eine Kastration, denn mit kryptorchiden Rüden sollte ohnehin keinesfalls weitergezüchtet werden, weil sich die Krankheit häufig auf den Nachwuchs überträgt. Auch bei Oscar konnte der fehlende Hoden im Leistenkanal gefunden werden. Ingrid Wiesner möchte noch einige Monate warten. Einerseits ist Oscar noch zu jung für eine Kastration, andererseits besteht noch Hoffnung, dass der Hoden an seinen Bestimmungsplatz wandert.  

Ein skurriles Detail am Rande: Wer aus ästhetischen Gründen ganz und gar nicht möchte, dass sein Hund mit einem schlaffen Hodensack auf die Strasse gehen muss, kann seinem Vierbeiner – kein Witz! – Hodenimplantate aus Silikon einsetzen lassen. Darauf, das wissen die Wiesners schon jetzt, wollen sie definitiv verzichten. Implantate zu Schönheitszwecken lehnen sie generell ab.