Im Spätherbst, wenn die Feldarbeit ruhte, begannen die Haustage und die Frauen nahmen ihr Spinnrad hervor. Von Michaelis (29. September) bis Lichtmess (2. Februar) fanden Spinnstuben statt, wo die Frauen zusammenkamen und spannen, während sie sich Geschichten erzählten und Klatsch austauschten. Das sommerliche Wetter am diesjährigen Spinntreffen des Angorazüchterverbandes in Niederuzwil SG liess keine Gedanken an Haustage und Winter aufkommen. Die 20 Wollbegeisterten sassen am letzten Oktobersonntag kurzärmlig an der Sonne und liessen ihre Spinnräder schnurren. Schmunzelnd erinnerte man sich an frühere Spinntreffen bei starkem Schneefall – und genoss das schöne Wetter umso mehr. Interessiert wurden die Spinnräder begutachtet, Erfahrungen ausgetauscht und geplante Strickprojekte beratschlagt. 

Die Spinnräder waren so verschieden wie die Wollmischungen, die daran versponnen wurden: Vom Museumsstück bis zum Hightech-Rad war alles vertreten. Als das Museumsrad zickte, scharten sich die anwesenden Männer sogleich darum und beratschlagten, wie es optimal einzustellen wäre – manches ändert sich trotz Genderdebatte wohl nie. Spinnen hingegen ist keineswegs den Frauen vorbehalten, allerdings waren die Männer mit Spinnrad in der Minderheit. 

Ideale Ergänzung
Im Verband hat sich eine Art Symbiose entwickelt zwischen Züchtern, die vor allem die Verbesserung der Rasse und Ausstellungen im Fokus haben, und wollbegeisterten Frauen, die vorwiegend spinnen und stricken: Die Züchter sorgen jeweils für genügend Nachschub an Wolle in verschiedenen Naturfarben, die Frauen kaufen sie zu einem fairen Preis ab. 

Auf diese Weise überstand die Rasse die Krise der 90er-Jahre. Die Chinesen waren damals in die Angoraproduktion eingestiegen und überschwemmten den Markt mit grossen Mengen Wolle zu Tiefstpreisen. In der Schweiz war die Angorawolle bis zu diesem Zeitpunkt zum grössten Teil gesammelt und an Spinnereien verkauft worden. Dies sicherte den Züchtern ein kleines Einkommen. Als das wegfiel, hörten manche mit der anspruchsvollen Rasse auf. Doch die wahren Angoraliebhaber blieben den Langhaarigen treu und schafften es – auch dank der wollbegeisterten Frauen – die Rasse mit ihren vielen Farbenschlägen bis heute zu erhalten. 

Angoras haben diesen Extra-Bonus: Ihre Wolle ist eine einheimische Edelfaser, die dreimal jährlich «geerntet» werden kann. Die Kaninchen stossen im Fellwechsel die alten Haare ab, die ausgekämmt oder von Hand abgepflückt werden. Rund 500 Gramm kuschelwarme Wolle liefert ein Kaninchen pro Jahr, das reicht für einen Pullover und ein paar Accessoires. Das Typische der Angorawolle ist der Halo, dieser zarte Flausch, der den Faden und das fertige Strickstück umgibt. Naturfarben von Weiss über Schokobraun und Gold, Wildfarbe in zarten Grau-braun-Schattierungen, silbernes Chinchillagrau, edles Blaugrau bis zu dunklem Anthrazit liefert die Natur direkt ab Kaninchen. Wer es bunter mag, färbt die Wolle ein.

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Spinnen als Meditation
Dies kann im fertigen Garn geschehen oder bereits in den losen Wollflocken. Die gefärbten Flocken lassen sich anschliessend zu vielfältigen Farbnuancen mischen oder zu Farbverläufen zusammenkarden und so verspinnen. Angora lässt sich mit Schafwolle, Seide oder anderen Fasern mischen, je nach Verwendungszweck und persönlichen Vorlieben. Ob stricken, häkeln, weben oder filzen – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. 

Doch nicht immer steht ein bestimmtes Projekt am Anfang der Wollverarbeitung, beim Spinnen ist bereits der Weg das Ziel. Spinnen ist weit mehr, als Fasern zu einem Faden zusammenzudrehen, es ist eine meditative Tätigkeit, Spinnen zentriert und beruhigt. Das Ordnen des Fasergewirrs in den Händen zu einem gerichteten Faden ordnet auch Gedanken und Gefühle. Es beruhigt nicht nur die Spinnerin, sondern auch Personen, die zuschauen. Gerade Kinder werden rasch ruhig und verfolgen fasziniert die Bewegungen des Rades. 

Spinnen war denn auch Teil des gewaltlosen Widerstandes gegen die britischen Kolonialherren, den Mahatma Gandhi vor rund 90 Jahren begründete. Er hielt die Inder an zu spinnen, um von Grossbritannien unabhängig zu sein. Er hiess sogar Politiker eine halbe Stunde pro Tag am Spinnrad zu sitzen, um den Geist zu beruhigen. Die Flagge Indiens ziert noch heute ein Spinnrad als Symbol der Gewaltlosigkeit. 

Verschiedene Angorarassen
Die ersten Angorakaninchen tauchten im 16. Jahrhundert in England auf. In der Schweiz ist die Rasse seit 1890 anerkannt. Das damals gezüchtete Angorakaninchen hatte besonders feines Haar, war dadurch pflege­intensiv und musste regelmässig gekämmt werden. Der heutige Typ entspricht ungefähr dem französischen Angora. In den 1930er-Jahren kam es zu hitzigen Diskussionen, welches Angora das «richtige» sei, das feinwollige Schweizer oder das ertragreichere französische Angora, das mehr Grannenhaare aufwies und dessen Vlies deshalb von einigen Gegnern als «einem Strohdach ähnlich» bezeichnet wurde. 1947 setzte sich das letztere Zuchtrichtung durch, das feinwollige Schweizer Angora verschwand nach und nach.

Angorakaninchen sind vom Wesen her ruhige und zutrauliche Tiere. In voller Wolle sind sie voluminös und benötigen einen entsprechenden Stall. Für kreative Menschen, die gern textil arbeiten, sind sie die idealen Haustiere, die nicht nur viel Freude bereiten, sondern auch eine unvergleichliche Wolle liefern.