Wenn die Katzenpsyche aus dem Gleichgewicht gerät, kann das verschiedene Ursachen haben. Eine davon ist Stress, der zum Beispiel dann entstehen kann, wenn die Katze einen geliebten Vier- oder Zweibeiner verliert, in einer neuen Wohnung ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann oder vom neuen Kater im Haus ständig geärgert wird. Aber auch traumatische Erlebnisse wie Unfälle, Vernachlässigung sowie Schmerzen und andere gesundheitliche Probleme bleiben selten ohne Folgen.

Ob und, wenn ja, welche psychische Störung eine Katze entwickelt, hängt dabei stark von der individuellen Situation, der einzelnen Katze, ihrer Persönlichkeit und Vorgeschichte ab. «Unter anderem gibt es Phobien und Angstzustände, Depressionen, akute oder posttraumatische Belastungsstörungen und selbstverletzendes Verhalten», sagt Tierpsychologin, Ethologin und Fachbuchautorin Martina Braun, die sich mit ihrer tierpsychologischen Praxis in Basel auf Katzen und Hunde spezialisiert hat.

Verhaltensauffälligkeiten
Eine sehr reizarme Umgebung sowie körperliche und emotionale Vernachlässigung können zum sogenannten Hospitalismus (auch Kaspar-Hauser-Syndrom genannt) führen, der sich unter anderem in grosser Ängstlichkeit und Entwicklungsstörungen ausdrückt. Anzeichen für psychische Störungen können Verhaltensauffälligkeiten wie vermehrter Rückzug, plötzliche Aggressivität, Antriebslosigkeit oder zwanghaftes Verhalten sein. Allerdings können die gleichen Symptome auch durch hormonelle Störungen, Schmerzen oder andere körperliche Probleme entstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Patientin naturgemäss keine Auskunft darüber geben kann, wie sie sich fühlt, wie sie ihre Umgebung erlebt und ob sie unter einer Situation leidet. All das erschwert die Diagnose und die genaue Benennung einer psychischen Störung.

«Fachbegriffe aus der Humanmedizin lassen sich nur sehr bedingt für Tiere anwenden», sagt Braun. Zudem sei es schwer, zwischen psychosomatischen Störungen und psychischen Erkrankungen zu unterscheiden. «Ich persönlich meine, dass das auch bei Menschen und anderen Lebewesen so ist.»

Aus diesen Gründen spreche man in der Verhaltenstherapie weniger von psychischen Erkrankungen als von Verhaltensauffälligkeiten. Damit sei jedes Verhalten gemeint, das vom üblichen Normalverhalten einer Katze abweiche. «Das können kleine Ticks sein, die das Zusammenleben mit dem Menschen und anderen Tieren nicht nachhaltig beeinträchtigen, aber auch Störungen, die drastische Auswirkungen haben. Das Spektrum ist breit gefächert.»

Der erste Gang führt zum Tierarzt
Zeigt eine Katze Verhaltensauffälligkeiten, sollte man zuerst einen Tierarzt konsultieren. Möglichst genaue Angaben der Halterin oder des Halters vereinfachen die Diagnose: Seit wann und in welchen Situationen treten die Verhaltensauffälligkeiten auf? Gab es im Leben der Katze einschneidende Veränderungen wie einen Umzug oder den Tod eines Katzenkumpels? Frisst und trinkt die Katze normal? Der Tierarzt klärt dann erst einmal ab, ob das Problem gesundheitliche Ursachen haben könnte. «Verletzt sich eine Katze selbst, indem sie sich Fell ausreisst, kann es sich um eine Folge von psychischer Überbelastung oder Vereinsamung handeln. Aber der krankhaft gesteigerte Putztrieb kann auch aufgrund von Parasiten, allergischen Reaktionen der Haut oder anderen Erkrankungen entstehen», sagt Braun. Dieses Beispiel verdeutliche, wie wichtig die tierärztliche Untersuchung sei. 

Hat der Tierarzt medizinische Probleme als Ursache ausgeschlossen, kommt die Verhaltenstherapie ins Spiel. «Als Verhaltenstherapeuten haben wir den Vorteil, dass wir das Tier in seiner normalen Umgebung kennenlernen statt auf dem Behandlungstisch. Zu unserer Arbeit gehört auch, die Beobachtungen mit dem Tierarzt abzugleichen.»Die Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten sei vom Einzelfall abhängig, erklärt Braun. Oberste Priorität habe, die genaue Ursache zu ermitteln und «abzustellen». Oft sei dazu eine Veränderung der Haltungsbedingungen nötig. Ausserdem werde der Halter beraten, wie er in bestimmten Reaktionen am besten reagiere. In sehr seltenen Einzelfällen könne es zudem nötig sein, die Verhaltenstherapie mit Psychopharmaka zu unterstützen. Braun: «Ganz wichtig: Schimpfen oder anderweitig strafen ist völlig kontraproduktiv.»

Sie habe die Erfahrung gemacht, dass viele Katzenhalter zu lange warteten, bevor sie professionelle Hilfe suchten, erzählt Braun. Dies sei zwar verständlich, weil Verhaltens-auffälligkeiten nicht vom einem Tag auf den anderen, sondern in einem schleichenden Prozess entstünden. Gleichzeitig könnten sich psychische Probleme aber verschlimmern, wenn man sie zu lange ignoriere. Wie man sich einen solchen Prozess vorstellen kann, erklärt die Tierpsychologin am Beispiel der Zwangsstörung OCD (obsessive-compulsive disorder), bei der Katzen sinnlos wirkende Handlungen wie lautes Miauen oder das Saugen an T-Shirts ständig wiederholen. 

Aufgepasst auf Folgeerkrankungen
OCD trete oft dann auf, wenn die Umweltbedingungen der Katze im starken Widerspruch zu ihren inneren Bedürfnissen stünden. «Das Ausführen zwanghafter Verhaltensweisen ist selbstbelohnend, da es nicht selten unbeabsichtigt durch die Aufmerksamkeit der Bezugsperson verstärkt wird», sagt Braun. Mit der Zeit zeige die betreffende Katze das störende Verhalten darum immer häufiger. Gleichzeitig werde die Behandlung aber langwieriger und schwieriger, wenn sich eine Verhaltensstörung erst einmal manifestiert habe. 

Laut Braun gibt es aber noch einen weiteren Grund, warum man mit einer verhaltensauffälligen Katze möglichst schnell zum Tierarzt und, wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen sind, zum Verhaltenstherapeuten sollte: Psychische Probleme können zu diversen Folgeerkrankungen führen. Neben Hautentzündungen, die durch übermässiges Putzen entstehen können, hat vor allem chronischer Stress dramatische Nebenwirkungen. Er beschleunigt den Herzschlag, greift die Magenschleimhaut an und schwächt das Immunsystem, wodurch dann Viren und Bakterien ein leichtes Spiel haben.