Bekommt Lilli Greber Besuch von ihrem Freund, versteckt sich Kater Merlin unter dem Sofa. Er kommt erst wieder hervor, wenn Lillis Freund mindestens eine halbe Stunde lang weg ist. Mit den Nachbarkindern ist es ganz ähnlich. Kaum betreten sie die Wohnung, fehlt von Merlin jede Spur. Das Leben mit einer ängstlichen Katze ist für Tierliebhaber eine Herausforderung. 

Greber hat Merlin vor eineinhalb Jahren adoptiert. Vorher sass er im Tierheim. Das Verhalten des Kätzchens, dessen frühe Lebensgeschichte Greber nicht kennt, bereitete ihr bislang stets Kummer und sorgte für Verunsicherung. Sollte sie einfach keinen Besuch mehr empfangen, um Merlin nicht zu sehr in Angst zu versetzen? Das kam für die Katzenfreundin nicht infrage. Auf der Suche nach einer Lösung probierte sie neben einem geduldigen, liebevollen Training ein Präparat aus, das bei Katzenbesitzern wie Hundefreunden immer wieder für Hoffnungen sorgt, wenn die Tiere ängstlich und nervös sind. Es handelt sich um ein Mittel namens Zylkène, das als Ergänzungsfuttermittel für Hunde und Katzen erhältlich ist. In Internetforen und Gesprächsrunden von Tierfreunden schwören etliche Tierbesitzer auf die hervorragende Wirkung. 

Die Idee des Präparates beruht auf der alten Weisheit, dass Milch einen beruhigenden Effekt bei Kleinkindern hat. Diese Wirkung wird einer bestimmten Verbindung im Milcheiweiss zugeschrieben, die sich Alpha-Casozepin nennt. In ihren ersten Lebenswochen verfügen nicht nur Babys, sondern auch Katzenkinder und Hundewelpen über ein Enzym im Körper, das besonders viel Alpha-Casozepin aus dem Milcheiweiss verstoffwechselt. Dieser Mechanismus sorgt für Beruhigung. Mit zunehmendem Alter lässt der Effekt nach, aber ganz verschwindet er nicht. Offenbar ist die Wirksamkeit aber individuell verschieden. In den Zylkène-Kapseln befindet sich genau dieser beruhigende Stoff aus dem Milcheiweiss. 

Zwei entscheidende Vorteile
Männer, Lärm oder der Tierarzt – Gründe für Ängste sind vielfältig und meist in der frühen Katzenkindheit zu finden. Die Angst vor Menschen ist besonders weit verbreitet. Der Grund dafür kann zum Beispiel eine schlechte Erfahrung im ersten Lebensjahr der Katze sein. Das merkt man oft an sehr spezifischen Dingen, beispielsweise wenn die Katze immer beim Anblick einer Person mit Besen in Panik gerät, bei Menschen mit Stiefeln oder mit Hüten. Interessant auch: Generell haben Katzen öfter Angst vor Männern und vor Kindern, während sie zu Frauen leichter eine vertrauensvolle Bindung aufbauen. Wissenschaftler vermuten, dass die Tiere die Absichten einer tiefen männlichen Stimme eher als unangenehm einstufen. Die häufiger auftretende Furcht vor Kindern dürfte mit deren Unberechenbarkeit, mit stürmischen Bewegungen und Lautstärke in Zusammenhang stehen. 

Ist die Angst vor Menschen eher unspezifisch, hat die Katze eventuell während ihrer kindlichen Sozialisierung zu wenig angenehmen Kontakt zu Menschen gehabt, vielleicht auch gar keinen. So ist es immer wieder bei Bauernkatzen, wenn sie irgendwo im Stall oder einer Scheune zur Welt kommen. Dann hat auch die Mutter in vielen Fällen ein scheues Wesen. Deshalb bringt sie ihrem Nachwuchs bei, Menschen gegenüber auf der Hut zu sein, sich nicht einfach streicheln zu lassen und Abstand zu halten. 

Zwar lassen sich wie bei Merlin die Ursachen längst nicht immer herausarbeiten, aber genau darum ist es wichtig, die Therapie möglichst breit gefächert anzugehen. In der Veterinärmedizin gibt es seit längerer Zeit die Kombination aus Verhaltenstherapie plus Zylkène. Mit erstaunlichen Erfolgen – zu denen es kommen kann, aber nicht muss. «Einigen Tieren hilft die Unterstützung von Zylkène sehr, andere sprechen nicht darauf an», berichtet Maya Bräm, Tierärztin und spezialisierte Verhaltensmedizinerin am Tierspital der Universität Zürich. Es gebe auf jeden Fall zwei entscheidende Vorteile: «Weil man die Kapseln öffnen und den Inhalt ins Futter geben kann, nehmen Katzen das Mittel generell gut an. Das ist sehr hilfreich. Und Nebenwirkungen gibt es im Prinzip gar nicht.» 

Als Kur über acht Wochen
Eine beruhigende Feststellung für Tierbesitzer. Untersuchungen des Wirkstoffs führten zu dem Ergebnis, dass er tatsächlich vor einer übermässigen Ausschüttung an Stresshormonen schützen kann. Milcheiweiss hat in untersuchten Laborsituationen sogar angstlösende Eigenschaften wie Diazepam (bekannt unter dem Markennamen Valium) – und das ganz ohne unerfreuliche Begleiterscheinungen. Eine Studie mit Katzen, die Angst vor fremden Personen hatten, führte zu dem Ergebnis: Nach zwei Wochen Milcheiweiss-Einnahme war die Angst der Samtpfoten deutlich gelindert. 

Der Hersteller empfiehlt, Zylkène für ungewohnte Situationen wie Veränderungen des Umfelds, Reisen, Familienzuwachs, Einzug eines neuen Haustieres oder Feuerwerke anzuwenden. Das Milcheiweiss soll etwa drei bis vier Tage vor dem Ereignis erstmals verabreicht werden, kann aber auch als Kur über sechs bis acht Wochen bei allgemein ängstlichen Tieren gegeben werden. Das wirksame Milcheiweiss gibt es nicht nur in Kapseln, sondern von verschiedenen Herstellern und eingearbeitet in Futtermittel wie beispielsweise Royal Canin Calm für Katzen. Der Tierarzt ist bei der Entscheidung für ein Präparat der erste Ansprechpartner. 

Greber und Merlin konnten mit einer Kombination aus Verhaltenstherapie und Milcheiweiss grosse Fortschritte machen. Zuerst präparierte die Katzenhalterin eine Höhle als Rückzugsort für Merlin. Ihr Freund bekam Anweisung, sich für den Anfang nur langsam in der Wohnung zu bewegen und dabei sanfte, leise Worte zu sprechen. Greber konnte Merlin schon bald mit Unterstützung einer Spielangel aus dem Versteck hervorlocken. Schon drei Mal hintereinander ist der Kater mittlerweile nicht geflüchtet, als der Gast ins Haus kam. Beste Voraussetzungen also, dass die beiden bald noch Freunde werden.