Luna ist in Spiellaune. Auf dem gewohnten Abendspaziergang wedelt die Hündin beim Anblick ihres Artgenossen Rocky freudig mit dem Schwanz. Nach kurzem Beschnüffeln fordert Luna Rocky zum Spielen auf. Der Rüde dreht sich jedoch um und steuert geradewegs auf den nächsten Busch zu. Luna wiederum setzt sich ins Gras und kratzt sich mit der Hinterpfote am Ohr. Nicht, dass es sie dort jucken würde! Lunas Ohrenkratzen ist eine Übersprungshandlung. Die Hündin ist verdutzt und weiss erstmal nicht, was sie machen soll.

Renate Hohmann von der Hundeschule DogSense aus Gündisau ZH kennt diese häufig gezeigte Verhaltensweise. «Eine Übersprungshaltung ist ein Verhalten, das durch eine Konfliktsituation ausgelöst wird und meist in keinem direkten Zusammenhang zur gegebenen Situation steht», sagt die Hundetrainerin, weshalb solches Verhalten vordergründig meist sinnlos erscheint. Dabei kennen wir es von unserer eigenen Körpersprache. Wer sich hinterm Ohr kratzt, ist unsicher und fragt sich zweifelnd: «Was mach ich denn jetzt?» 

Flucht aus der Situation
Bei Luna ist es ähnlich: Da es der Hündin nicht möglich ist, wie von ihr geplant mit Rocky zu spielen, kratzt sie sich stattdessen am Ohr – ein Verhalten, das völlig aus dem Kontext der vorherigen Handlungskette gerissen ist. Sinnlos ist es dennoch nicht. Denn genau dieses Ohrenkratzen ist für Luna beruhigend. Es ist wie eine Art Flucht aus der Situation: Luna gewinnt etwas Zeit, um sich neu zu orientieren, und kann so die durch Rockys unerwartetes Verhalten entstandene Unsicherheit oder den Stress abbauen.

Natürlich ist nicht jedes Ohrenkratzen eine Übersprungshandlung. Es kann auch tatsächlich ein Juckreiz dahinterstecken. Oder es kann sich um ein sogenanntes «calming signal» handeln. «Dies sind Handlungen, die der Kommunikation mit einem Gegenüber dienen», so Renate Hohmann. 

Übersprungshandlungen, welche dem Hund selbst zur Beruhigung und Stressminderung dienen, sind oftmals gar nicht so leicht zu erkennen. «Es gibt keine Liste, in der nachgeschlagen werden kann», sagt die Hundetrainerin. Um ein Verhalten als Übersprungshandlung einstufen zu können, kommt es daher auf den Kontext an. «Nicht die Handlung an sich ist hier bestimmend, sondern der Gesamtzusammenhang, warum diese Handlung gemacht wird.» So könne der Hund einfach aus Spass und Lust Mäuse buddeln oder sich beim Erschnüffeln des ultimativen Wurstgeruchs die Schnauze lecken. Je nach vorausgehendem Geschehen könne beides ebenso der eigenen Beruhigung dienen. «Auch gähnen kann ein Hund, weil es ihm gerade nach Gähnen zumute ist oder um sich aufgrund einer Konfliktsituation zu beruhigen.» 

Individuelle Handlung, je nach Rasse
Manche Übersprungshandlungen sieht man besonders häufig: Nebst dem bekanntem Buddeln, Schnauze schlecken und Gähnen, sind Gras fressen, sich kratzen, wälzen, am Holzstecken nagen, etwas fixieren oder genau beobachten, aufreiten, intensives Schnüffeln, Lecken, Knabbern, Bellen und wie irre herumrennen laut Hohmann beliebte Übersprungshandlungen. «Theoretisch kann jede Handlung zur Übersprungshandlung werden», weiss die Expertin.

Nicht nur die Vielfalt, auch die Individualität erschwert das Erkennen von Übersprungshandlungen. «Faktoren wie Umgebung, Genetik und geprägtes sowie abgeschautes Verhalten beeinflussen dieses Verhalten», sagt die Hundetrainerin. So habe ein Hund in der Stadt selten die Möglichkeit, sich ins Mäusebuddeln zu retten. «Retriever fangen eher an, etwas rumzutragen, als Windhunde dies tun würden.» Oft richten sich Hunde in ihrem Verhalten auch nach der Mutter oder anderen Rudelmitgliedern.

Besonders schwer als Übersprungsverhalten zu entlarven sind Handlungen, die eigentlich der Befriedigung eines Alltagsbedürfnisses dienen, wie zum Pinkeln raus wollen oder Wasser trinken. «Hier ist es schon schwerer zu erkennen, ob der Hund nun Durst hat und deshalb immer wieder zum Wasserschlabbern geht oder ob es eine Übersprungshandlung ist.» Ist zudem noch Besuch da, kann die Ursachenforschung an Detektivarbeit grenzen. «Ist es laut und jeder streichelt den Hund, ist es normal, dass sich so mancher Vierbeiner selbst beruhigen möchte.» 

Viele Hundehalterinnen und -halter kennen sich nicht allzu gut mit Übersprungshandlungen aus. «Viele interpretieren die Handlungen eher als ungehorsames Verhalten.» Der Hund habe mal wieder anderes im Sinn oder höre überhaupt nicht zu. Solche Missverständnisse verstärken die Probleme des Hundes. Er bekommt Ärger mit seinem Besitzer, weil und obwohl er gerade eine für ihn ärgerliche und stressige Situation zu meistern versucht. Das bleibt nicht immer ohne Folgen. «Im schlimmsten Fall kann er solche Situationen irgendwann gar nicht mehr bewältigen und es entstehen ernsthafte Verhaltens- oder gesundheitliche Probleme.»

Erkennen und unterstützen
Wer seinen Hund genau beobachtet, wird mit der Zeit erkennen, wann und welche seiner Handlungen der Selbstbeschwichtigung dienen. Viele Hunde haben Übersprungshandlungen, die sie bevorzugt benutzen. Der Halter kann seinem Hund somit aus der Zwickmühle helfen. Zuerst ist aber abwarten angesagt. «Immer helfen, wo keine Hilfe notwendig ist, macht nämlich hilflos.» Hohmann rät Haltern, den Vierbeiner und die Situation gut zu beobachten. «Schafft der Hund es selbst aus der Übersprungshandlung herauszukommen, sollte er bestätigt werden, dass er das prima gemacht hat.» Ein Problem selbst zu lösen stärkt das Selbstbewusstsein. 

Sitzt der Hund hingegen in der Übersprungshandlung fest oder wechselt gar von einer in die andere, sollte der Halter mit seinem Hund entweder die Situation verlassen oder ihm da raushelfen, indem man ihm eine kleine, leichte Aufgabe stellt, wie zum Beisspiel ein verstecktes Guetzli zu suchen oder um einen Baum zu rennen. 

Manchmal hilft es laut Hohmann auch, wenn wir uns zum Hund auf den Boden setzen und mit ihm gemeinsam eine Pause machen. «Es soll auf alle Fälle etwas sein, das für den Hund leicht zu schaffen ist und woran er Freude hat, damit er wieder durchatmen kann.»