Etwa drei bis vier Stunden pro Tag verbringt eine gesunde Katze mit der Fellpflege. Die bewegliche Zunge, die mit kleinen Häkchen aus Horn für diesen Job hervorragend ausgestattet ist, entfernt dabei Dreck, lose Haare, Schuppen und Ungeziefer. Doch regelmässiges Putzen hält nicht nur sauber: Es beugt Verfilzungen vor, regt die Durchblutung an und bringt die Talgdrüsen dazu, Fett zu produzieren. Dadurch wird das Fell schön glänzend, geschmeidig und noch dazu so wasserdicht, dass die Katze beim nächsten Spaziergang im Regen nicht gleich bis auf die Haut nass wird. Im Sommer fungiert der Speichel, der erst grosszügig auf dem Pelz verteilt wird und dann verdunstet, als körpereigene Klimaanlage. Ausserdem «parfümieren» sich Katzen über den Speichel mit ihrer individuellen Duftnote. 

Befreundete Katzen zeigen sich bei der gegenseitigen Fellpflege ihre Zuneigung. Und wenn es der Katze einfach nicht gelingen will, den Fisch aus dem Aquarium zu holen oder sie nicht versteht, was Frauchen gerade von ihr möchte, kann das Putzen eine Übersprungshandlung sein. 

Putzzwang mit Nebenwirkungen
Weil sich die meisten Katzen häufig und ausgiebig putzen, fällt es vielen Haltern zunächst einmal gar nicht auf, wenn die Katzenwäsche exzessiv wird. «Dazu kommt, dass sich die betroffenen Katzen oft heimlich putzen oder kratzen, der Besitzer sie also kaum je bewusst bei der Fellpflege beobachtet», sagt Tierärztin Leslie Wohlgroth von der Obersee-Praxis in AltendorfSZ. Dass etwas im Argen ist, könne man aber auch beim Streicheln, Spielen oder Füttern erkennen – spätestens dann, wenn das Fell dünner oder an manchen Stellen kürzer wird, es matt oder wie abrasiert aussieht oder sogar schon kahle Stellen auftreten. «Auch wenn vermehrt kleine Fellbüschel in der Wohnung herumliegen, sollte man aufmerksam werden. Einige Katzen lecken sich nämlich nicht, sondern rupfen sich die Haare mit den Zähnen aus», so Wohlgroth. 

Kahlheit steht den wenigsten Katzen gut. Viel wichtiger ist aber, dass die Haut an den besonders betroffenen Stellen, häufig sind das die Flanken, nun nicht mehr durch Fell vor Sonne, Kälte und Nässe geschützt ist. Das Auszupfen von Haaren, aber auch ständiger Zungeneinsatz, lässt die Haut wund werden und führt früher oder später zu Verletzungen. Und das tut nicht nur weh, sondern macht die Haut auch anfälliger für Infektionen. 

Verschluckt die Katze übermässig viele Haare, verklumpen diese im Magen oder Darm häufig zu Haarballen, die dann zu Erbrechen, Verstopfungen und im schlimmsten Fall zum lebensgefährlichen Darmverschluss führen. Katzengras und Malzpasten, die beide das Ausscheiden der Haarballen erleichtern, können dem vorbeugen. Zum Tierarzt sollte man mit der Katze aber so oder so. Denn übertriebener Putzfimmel ist immer ein Alarmzeichen.

Körperliche und psychische Ursachen In den meisten Fällen, das sagen eine kanadische Studie von 2006 sowie die Praxiserfahrung von Leslie Wohlgroth, stecken hinter dem grossen Kribbeln körperliche Ursachen. «In unserer urban gelegenen Kleintierpraxis sind es besonders oft Allergien, zum Beispiel Heuschnupfen (inhalierte Allergene) und Futtermittelallergien (gefressene Allergene), die den Juckreiz auslösen. Auf dem Land findet man bei betroffenen Katzen sicher häufiger Flöhe und andere Parasiten.» Zudem könnte das Krankheitsbild auch als eine Folge von Trauma und Nervenerkrankungen (Neuropathien), bakteriellen Infektionen und Hautpilz entstehen. Und manchmal putzen sich Katzen übertrieben viel, wenn es irgendwo wehtut. «Das passiert besonders häufig bei Blasenentzündungen und Gelenkschmerzen.» 

Können alle möglichen körperlichen Ursachen
vom Tierarzt ausgeschlossen werden, liegt nahe, dass psychische Probleme verantwortlich sind. In der Fachsprache nennt man psychisch bedingtes, übermässiges Putzverhalten «psychogene selbstinduzierte Leckalopezie», gemeinhin bekannt als Overgrooming. «Ein psychisch bedingtes, übermässiges Lecken kann in die Kategorie des kompulsiven Verhaltens, also Zwangsverhaltens, fallen, so wie wir das bei uns Menschen zum Beispiel vom Nägelkauen kennen. Dann leckt sich die Katze vermehrt, ohne dass die Haut dabei jucken oder schmerzen würde», erklärt Wohlgroth. Inzwischen weiss man aber auch, dass psychische Ursachen durchaus körperliche Auswirkungen haben können. «Der Stress löst dann über die Nerven einen echten Juckreiz in der Haut aus.» Diese Reaktion, die 1998 erstmals vom US-Forscher O’Sullivan beschrieben wurde, nennt man «neuro-immuno-cutaneous-endocrine model»

In jedem Fall sollten Halter eines Overgrooming-Patienten die auslösenden Stressfaktoren – das können Isolation, Langeweile und Bewegungsmangel genauso wie fehlende Rückzugsmöglichkeiten, häufige Veränderungen, Angst vor dem Haushund oder Konflikte mit dem Nachbarskater sein – möglichst schnell beheben. Oft reichen schon kleine Veränderungen, um die Lebensqualität der Katze nachhaltig zu verbessern. Abhängig vom Einzelfall können zum Beispiel regelmässiges Spielen mit der Wohnungskatze oder erhöhte Aussichtsflächen, auf denen der Stubentiger seine Ruhe vor Hund und Kindern hat, viel zur Entspannung beitragen. 

Um den jeweiligen Stressfaktoren möglichst schnell auf die Schliche zu kommen, sollte man sich von einem erfahrenen Verhaltensmediziner (siehe Link) unterstützen lassen. «Zusätzlich hilft oft spezielles Futter, beziehungsweise Futtermittelzusätze mit Inhaltsstoffen wie Milchproteine und L-Tryptophan, die beruhigend wirken», sagt Wohlgroth. Hilfreich seien oft auch Zerstäuber, welche die Beruhigungspheromone, die Katzen unter normalen Umständen selber verbreiten, künstlich nachahmen. «Und wenn das alles nichts nützt, können auch Antidepressiva erfolgreich eingesetzt werden.»

www.stvv.ch