Dr. Anneli Muser Leyvraz MSc CABC ist Tierärztin und Präsidentin der Schweizerischen Tierärztlichen Vereinigung für Verhaltensmedizin. In ihrer Praxis in Genf bietet sie unter anderem tier-psychologische Beratungen an.

Frau Muser Leyvraz, psychische Krankheiten bei Menschen sind gut bekannt. Gibt es das auch bei Katzen?

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sindpsychische Krankheiten «bedeutsame Störungen der Wahrnehmung, der Emotionsregulation oder des Verhaltens», die in der Regel mit Stress oder Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen verbunden sind. Überträgt man diese Definition auf Tiere, so lautet die Antwort: ja. Auch Katzen besitzen eine «Psyche», damit meint man alle höheren Funktionen des Gehirns, wie auch geistige Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale. Das heisst, man findet auch bei KatzenDepressionen, Angststörungen, Panikattacken, Stereotypien und Pica. Inwieweit diese Erkrankungen jedoch,mit denen des Menschen vergleichbar sind, ist schwer zu sagen.

Wie oft kommen solche psychische Erkrankungen vor?

Leider gibt es dazu wenige Statistiken, da solche Erkrankungen oft von den dadurch entstehenden Verhaltensproblemen getrennt werden. Eine brasilianische Studie fand jedoch zum Beispiel bei 17,4 Prozent der untersuchten Katzen eine sogenannte psychogene Alopecie und Pica, wie das zwanghafte Ausreissen und Verschlucken von Haaren, sowie andere orale repetitive Verhaltensweisen wie übermässiges Lecken.

Wie äussern sich psychische Probleme bei Katzen?

Betroffene Katzen zeigen eine Veränderung ihres bisherigen Verhaltens. Sie können ängstlicher reagieren, sich verstecken, viel schlafen, unsauber werden, anhänglicher werden oder Aggressionen zeigen, oder zum Beispiel Dinge fressen, die eigentlich keine Nahrungsmittel sind. Sie können Veränderungen im Putzverhalten zeigen, sich übertrieben putzen oder im Gegensatz gar keine Körperpflege betreiben und somit praktisch verwahrlosen. Oder auch zu viel oder zu wenig fressen und trinken sind typische Anzeichen eines psychischen Problems, sofern eine andere Erkrankung ausgeschlossen werden kann.

Wie diagnostizieren Sie eine mögliche psychische Erkrankung?

Zuerst muss eine gründliche klinische Untersuchung durchgeführt werden. Dazu gehören unter Umständen eine Blut- oder Harnuntersuchung, Ultraschall- und Röntgenaufnahmen. Denn zuerst muss geklärt werden, ob die Verhaltensänderung eine körperliche Ursache hat und entsprechend behandelt werden muss. Das eine schliesst jedoch das andere nicht aus, und oft sind physische und psychische Erkrankungen schwer voneinander zu trennen. Bei einer ausführlichen psychischen Anamnese frage ich die Besitzerinnen dann nach Rasse, Alter, Herkunft, wie das Tier aufgewachsen ist und welche Erfahrungen es gesammelt hat. Wie ist der Tagesablauf der Katze, was macht sie, was geschieht in der Nacht? Kann die Katze raus? Wie ist ihr Verhältnis zu den anderen im Haushalt lebenden Personen und Haustieren? Dann frage ich noch nach, wie lange das Verhalten schon besteht, wie häufig die Symptome beobachtet werden und in welchen Situationen sie auftreten.

Wenn die Diagnose feststeht, wie kann die Katze behandelt werden?

In vielen Fällen kommen Medikamente zu Einsatz, insbesondere, wenn eine physische Erkrankung eine Rolle spielt, die mit Schmerzen oder Entzündungen verbunden ist. Auch Fehlfunktionen von Organen können so gut behandelt werden sowie Stärkungen des Hormonhaushalts psychische Symptome lindern. Wie beim Menschen können auch bei Katzen psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Zwänge, also repetitive Verhaltensweisen, durch entsprechende Medikamente behandelt werden, um den Leidensdruck der Katze und schlussendlich auch den der Besitzer zu mindern. Bei einer Therapie werden jedoch auch immer das Umfeld und die Lebensumstände der Katze mit einbezogen und optimiert. Verhaltenstherapie wie Gegenkonditionierungen, Desensibilisierung, Spieltherapie und Klickertraining kommt auch zum Einsatz. Bei Katzen geht das sehr gut, ohne dass man wie bei einer menschlichen Psychotherapie mit ihnen «sprechen» müsste.