Die Ohren stehen waagrecht vom schmalen Kopf ab, die hervorstehenden Augen verleihen ihnen einen stechenden Blick – diese Schafe würden bei einem Publikumsvoting keinen Schönheitspreis gewinnen. Als weiteres Merkmal sticht den Betrachtern der unbewollte rote Kopf ins Auge, dem die Rasse einen Teil ihres Namens zu verdanken hat: Rouge de l’Ouest.

Die Roten aus dem Westen also, denn im Westen Frankreichs ist die Rasse auch entstanden. In den Regionen Maine und Anjou, die heute zum Departement Maine-et-Loire gehören und die an die Bretagne grenzen, kreuzten Züchter Ende des 19. Jahrhunderts lokale Milchschafschläge mit englischen «Bluefaced-Leicester» und «Wensleydale», beide bekannt als ausgezeichnete Fleisch­schafras­sen. Daraus entstanden Bleu du Maine und Rouge de l’Ouest, die sich einzig in ihrer Hautfarbe am Kopf unterscheiden: schiefer- bis taubenblau bei den einen, rot bei den anderen.

Offiziell als Rasse anerkannt wurden die Rouge de l’Ouest in Frankreich 1963. Von dort kamen sie dann in die Schweiz. In den 1990er-Jahren registrierte Jean-Jacques Imberti aus dem Kanton Genf als erster Besitzer in der Schweiz Rouge de l’Ouest im Herdebuch. Er ist bis heute der mit Abstand grösste Züchter, der gemäss Schweizerischem Schafzuchtverband gut 90 Prozent der Herdebuch-Tiere hält. 875 waren es insgesamt per Juni 2019 844 Auen und 31 Böcke.

Gentlemen-Bock Alain
Zwanzig Muttertiere, ein Bock und einige im vergangenen März geborene Jungtiere weiden hoch über dem linken Zürichseeufer. Sie gehören Karin und Christian Feusi aus Schönenberg ZH. Das Tierärzte-Ehepaar kam 2014 zufällig auf die Rasse. Ein Viehhändler, der einige reinrassige, aber nicht im Herdebuch registrierte Rouge de l’Ouest hielt, habe ihm gesagt, er müsse sich unbedingt eine Schafrasse anschauen, erinnert sich Christian Feusi, die habe «wahnsinnig Gigot».

So kam Shirley zu den Feusis. Shirley wie Shirley Temple, die Schauspielerin. «Unsere Schafe haben Namen aus der Filmwelt, meist französische», sagt Karin Feusi lächelnd. Wie Bock Jean-Luc, den sie gemeinsam mit Noisette 2015 beim renommierten Züchter Earl François in Westfrankreich geholt hätten. Auf Jean-Luc folgten Anatol und Alain, den Karin Feusi «einen hoch anständigen Bock, einen Gentlemen» nennt. Dennoch verlässt er seine Truppe, die er bereits viermal gedeckt hat, dieses Jahr. «Es braucht neues Blut in der Herde», erklärt Christian Feusi. Deshalb gehe Alain weiter zu einem Schäfer.

Bisher hätten sie alle Böcke und fast alle Jungtiere zur Weiterzucht verkaufen können, meist an Nicht-Herdebuch-Betriebe, die sie mit ihren Milchschafen kreuzten. Zum Metzger gebracht hätten sie nur einige wenige Tiere, mit denen man nicht züchten konnte, sagt Christian Feusi. «Und eines», ergänzt seine Frau, «weil wir das Fleisch einmal probieren wollten.» Sehr gut und zartfaserig sei es. Was nicht weiter verwundert: Die eher kleinen und kompakten, dafür aber umso muskulöseren Rouge de l’Ouest haben ein gutes Fleisch-Knochen-Verhältnis. Bei einem Test erzielten sie unlängst den besten Fleischwert aller Rassen.

Auch sonst wissen die beiden Veterinäre nur Positives über die Rasse zu berichten. Die Auen sind sehr fruchtbar, bekommen meist Zwillinge, oft auch Drillinge und sind sehr gute Mütter. Die Geburten gehen problemlos vonstatten und die Lämmer sind sehr vital. Die Tiere haben sehr feine Beine und kleine Klauen, fast schon wie Geissen, und kennen keine Klauenprobleme. «Es sind robuste und sehr lebendige Schafe, bei denen immer etwas los ist», sagt Karin Feusi, «sie sind ausgeprägte Herdentiere, die gerne beieinander sind.» Und sie seien begeisterungsfähig, wenn man ihnen Futter gebe oder wenn es auf eine neue Weide gehe. «Sie sind liebenswürdig», schliesst die Tierärztin ihr Loblied. Wenn nur das Äussere nicht wäre, denkt die Betrachterin. An das Aussehen gewöhne man sich, betonen die Feusis, die ihre Rouge de l’Ouest nicht mehr weggeben würden.

Polizeieinsatz wegen «Sonnenbrand»
Wie den Menschen ging es offenbar auch den Braunköpfigen Fleischschafen, die in der gleichen Herde leben. «Sie fixierten die Neue, legten die Ohren nach hinten und waren fast etwas aggressiv», erinnert sich Karin Feusi an die erste Begegnung der beiden Rassen. Das Rouge de l’Ouest habe den Kopf gesenkt und die Braunköpfe irritiert aus seinen Glubschaugen angeschaut. Mittlerweile sind sie längst eine Herz und eine Seele. Wenn die Rotköpfigen auf ihrer Winterweide um ihr Hüttchen herumsprinten, sind die Braunköpfe mit von der Partie. Doch es dauerte laut Karin Feusi schon eine Weile, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten.

Längst gewohnt ist die Familie auch, dass Spaziergänger und Velofahrer stehen bleiben, gaffen und Selfies schiessen, wenn ihre Herde neben dem Haus grast. Doch dass die Schafe mit ihren roten Köpfen gar die Polizei ausrücken lässt, ist auch für die Feusis speziell. Am Ostermontag, als sie gerade draussen beim Mittagessen waren, beobachteten sie, wie die Polizei oberhalb des Hauses anhielt und die Tiere fotografierte. «Ohne etwas zu sagen», erklärt Karin Feusi. Deshalb sei sie zu den Beamten hinaufgegangen und habe sie gefragt, was sie da machten. Ein Spaziergänger habe Schafe mit geröteten Köpfen gemeldet, hiess es. Und wegen des schönen und warmen Wetters hatte er einen Sonnenbrand vermutet und die Polizei gerufen. Feusi konnte die Lage klären. Doch nachdem es weitere solche Zwischenfälle gab, haben die Feusis an allen Weiden Tafeln mit ihrer Telefonnummer und dem Porträt der Rasse Rouge de l’Ouest angebracht. Und erklären damit, dass die Schafe ganz natürlich rotköpfig sind.