Die aufgeregten Schreie sind etwas abgeflacht, nun schmiegt sich der riesige Wallach Pablo Picasso mit ganzem Gewicht gegen das Gitter seiner Box. Über sein Rückenfell streicht die Hand von Erna Schmid: «Der Name hat er wegen seiner schönen Zeichnung. Nun ist er aber ungeduldig und will auf die Weide.» Aus dem Stall dröhnt noch mehr Tumult: «Alle wollen sie raus», lacht Schmid.

Pablo, Amor, Stella – Schmid kennt sie auf Fingerzeig alle beim Namen, kennt die Geschichten aller 75 Tiere, die heute im «Eselheim Merlin» der Stiftung «Esel in Not» ein neues Leben geniessen dürfen. 75 Tiere – nur eine Momentaufnahme. Bereits Hunderte Esel kamen als gebrochene Huftiere durch die Stallklappen, wurden von Schmid und ihren Mitarbeitern verarztet, gepflegt und tierpsychologisch betreut. Manche – gerade gesunde junge und erwachsene Tiere – wurden in ein neues Leben adoptiert. Alte sowie besonders traumatisierte Tiere hingegen blieben bei Schmid, nicht weniger glücklich, um sich auf den zwanzig Hektaren des Eselheims im baden-württembergischen Engen bei Hegau in den Lebensabend zu kauen.

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«50 Esel aufzugeben war keine Option»

Vor 40 Jahren nahm die heute 68-jährige Schmid den ersten Esel auf, damals noch auf ihrem Hof im zürcherischen Hüttikon. «Ich hatte eigentlich Pferde, habe dann aber eine Eselstute gekauft, der es schlecht ging.» Schmids Tat spricht sich herum, und immer mehr Tiere werden ihr in Pflege gegeben. «Das war wie eine Lawine. Diejenigen, die mir am meisten leidtaten, päppelte ich auf. Anfänglich suchte ich bei Tierärzten Hilfe, aber es wurde rasch klar, dass die noch weniger über Esel wussten als ich», lacht Schmid.

Die Esel mehrten sich, der Platz wurde eng. Drei Hektaren Land mussten gepachtet werden, erinnert sich Schmid. Dann kam das Gesetz über das bäuerliche Bodenrecht – und die noch junge Stiftung «Esel in Not» hatte als Nicht-Landwirtschaftsbetrieb schlagartig keinen Anspruch mehr auf Weideland. «50 Esel aufzugeben war keine Option, die meisten hätten wir einschläfern müssen.» Durch die Stiftung «Humanatura» konnte Schmid 2006 schliesslich den Hof in Engen bei Hegau für «Esel in Not» ersteigern – und ist dort seit zwölf Jahren auch selbst zu Hause.

Stiftung «Esel in Not»Die Stiftung «Esel in Not» kümmert sich um kranke, misshandelte, schlecht gehaltene und alte Esel. Aus einem Umkreis von 500 km werden Tiere gerettet und vermittelt . Dabei wird Wert darauf gelegt, dass das neue Zuhause geeignet ist und die Tiere dort Gesellschaft mit anderen Eseln haben. Die Stiftung setzt sich auch für Aufklärung, artgerechte Haltung und richtige Fütterung ein. Gegründet in der Schweiz, ist «Esel in Not» heute auch in Deutschland als eingetragener Verein (e. V.) registriert.

www.eselinnot.ch

Die falsche Ernährung führt zu Problemen

Schmid kennt ihre Tiere so gut wie die Leiden, die die Esel und Maultiere zu ihr führen: «Viele wurden so schlecht gehalten, dass sie gesundheitlich litten. Als Tierschutzfall versuchen wir sie freizubekommen, manchmal schreitet auch das Veterinäramt ein.» Das Problem: Schlechte Haltung führt zu gesundheitlichen Problemen, die unbehandelt chronisch werden. Hufprobleme sind besonders schlimm: «Den ganzen Sommer sind die Tiere auf der Weide und im Winter werden sie in der Box eingesperrt. Die Hufschmerzen werden dabei so schlimm, dass die Esel nicht mehr richtig laufen können. Die einen kann man noch retten, bei anderen ist es schon zu spät», sagt Schmid, die mit ihrer Stiftung den Tieren nicht nur Unterkunft bietet, sondern auch Aufklärungsarbeit leistet.

Die ist auch gerade hierzulande nötig. Zu viele Esel würden wie Pferde gehalten. Die falsche Ernährung führt zu Problemen. Schmid: «Esel sind Wüstentiere und brauchen karges Futter. Werden sie wie Pferde auf der Weide gehalten, verfetten sie.» Über der südbadischen Morgenidylle hängt hier und da ein Flecklein blauer Himmel. Gutes Wetter für die Tiere, die aus Ungeduld nun gegen die Boxen kicken. «Regen und Nebel mögen die Esel nicht. Die stehen dann im Stall oder unter dem Vordach wie eine Reihe geparkter Autos», sagt Schmid, während sie das Holztor zum Stall öffnet. Sie kennt die Macken und Ticks der Tiere – das Eselleben ist schliesslich komplex, sagt Schmid. Sie zeigt auf zwei Boxennachbarn: «Bei dem hier ist die Mutter ein Pony, der Vater ein kleiner Esel – bei der hier hingegen die Mutter eine Eselstute und der Vater ein Pony. Die zwei waren lange ein Paar. Dann von einem Tag auf den anderen ging das nicht mehr, und nun leben sie mehr oder weniger in Scheidung. Auf der Weide lieben sie sich noch, aber nicht hier.»

Eine starke Verbindung

Ein derart kompliziertes Liebesleben wird den Eseln genauso wenig zugerechnet wie Intelligenz. Schmid ärgert das. Dumm seien Esel sowieso nicht. Sie deutet auf den Stahlbolzen, der die Boxen sichert: «Den ganzen Tag schauen die Tiere zu, wie wir die Türen öffnen und schliessen – und da draussen liegt das Heu. Die wissen nun genau, dass sie da rankommen, wenn sie nur ein wenig an den Türen rütteln, bis der Bolzen raus ist», so Schmid. «Der Esel hat gelernt, dass er für sich selber denken muss – das wird dann von den Menschen als Sturheit interpretiert. Aber er überlegt sich halt zweimal, ob das, was der Mensch von ihm will, ihm etwas bringt. Jedes Tier ist so intelligent, wie es für das Überleben notwendig ist.»

Weite Felder umziehen den Hof, die Wälder öffnen sich in Talrichtung. Das Naturschutzgebiet nannte Schmid die letzten zwölf Jahre ihr Zuhause. Eines, das sie mit den Eseln teilte. «Fragen Sie mal eine Mutter, welches Kind sie am liebsten hat. Gewisse Beziehungen sind schon speziell – zum Beispiel zu Linda, um deren Überleben ich eine Woche kämpfte. Oder die zwei Flaschenkinder, die hier auf dem Hof aufgewachsen sind. Da hat auch das Tier eine stärkere Beziehung», sagt Schmid.

Für die jahrelange Arbeit hat die Stiftung 2021 den Tierschutzpreis von Baden-Württemberg gewonnen – ein schöner Abschluss, sagt Schmid, der die körperlich anstrengende Arbeit nach 40 Jahren zu viel wurde. Nun kehrt sie zurück in die Schweiz, wird sich am Vierwaldstättersee zur Ruhe setzen und die Betriebsleitung des Hofes abgeben. «Der Kopf will noch, aber der Körper mag nicht mehr, das ist halt so», sagt Schmid. Beherzt, aber nicht wehmütig blickt sie in die Zukunft: «Natürlich werde ich die Tiere vermissen. Ich habe 40 Jahre mein Herz reingehängt. Das Wichtigste ist, dass die Arbeit weitergeführt wird und die Esel in guten Händen sind.»