Wie man sich doch täuschen kann. Auf den ersten Blick sehen die Bündner Oberländer Schafe von Silvio Pfister aus wie Sensibelchen, verletzliche Primadonnen. Auf den zweiten auch: Feingliedrige Beine und Körper, einige mit sanft geschwungenen Hörnern und schmalem Körperbau. Doch der Bio-Bauer aus Schlans lacht: «Sensibelchen? Im Gegenteil! Ich habe während meiner Zeit als Bauer und Schafhirt so ziemlich alle gängigen Schafras­sen kennengelernt. Ein zähere, genügsamere als unser Bündner Oberländer Schaf gibt es nicht.»

Pfister ist derzeit wohl der einzige Bauer in der Surselva im Bündner Oberland, der die Rasse züchtet und sie im Herdebuch eintragen lässt. Noch vor ein paar Jahrzehnten war das anders, ganz anders. «Früher gab es bei uns in jedem Dorf einen Schafhirten, einen Buben, der im Frühling die Schafe aller Bauern hütete, bevor sie dann auf die Alp gingen. Ich war der letzte Hirt von Schlans – nach mir kam keiner mehr», sagt Pfister.

Sieht Tierarzt nur von Weitem
In dieser Zeit ist wohl die Liebe zu dieser Rasse im heutigen Bauern mit 36 Hektaren Land, mit Ziegen und seltenen Pferderassen – Araber und Original Freiberger – erwacht. «Damals hatten wir hier alle noch solche Schafe, auch mein Vater.» Aber die Tiere waren eigentliche «sans papiers». Sie waren in keinem Herdebuch eingetragen und galten eher als minderwertig. «Die Händler monierten, dass sie zu klein waren, zu wenig Fett hatten.» Das mit den Händlern hat sich seither nicht verändert, denn im Gegensatz zu anderen Schaf­rassen sind die Bündner Oberländer Schafe das geblieben, was sie immer waren: Klein und fettarm im Fleisch.

Lohnt sich denn die Zucht überhaupt? Pfister lächelt und holt aus: «Meine Tiere leben von dem, was meine Weiden in den Bergzonen drei und vier hergeben. Gras und Heu. Kraftfutter brauche ich keines. Weil sie eben nicht hochgezüchtet und überschwer gemacht wurden, sind auch die Hufe nicht übermässig beansprucht.» Moderhinke gibt es bei seinen Schafen darum nicht. «Sogar auf Alpen, auf denen diese gefürchtete Krankheit auftritt, bleiben meine Tiere unversehrt.»

Wenn der Bio-Bauer die Tiere gut pflegt, sie insbesondere entwurmt und ihnen die Klauen schneidet, sieht er den Tierarzt in der Regel nur von Weitem. «Ausserdem sind Zwillings- oder gar Drillingsgeburten eher die Regel als die Ausnahme», lobt Pfister weiter. Wenn er also all diese Fakten in Betracht ziehe, dann seien seine Schafe unter dem Strich so wirtschaftlich wie andere Rassen auch. 

Rettungsgeschichte wie ein Krimi
Das Bündner Oberländer Schaf ist ein Nachkomme des Tavetscher- und Nalpserschafes. Dass es die Rasse überhaupt noch gibt, mutet an wie ein Krimi. Hauptakteur – neben dem einheimischen Schaf natürlich – ist Hanspeter Grünenfelder. Der Gründer der Stiftung ProSpecieRara befasst sich schon seit Ende der 1970er-Jahre mit der gefährdeten Agrobiodiversität. Grünenfelder erzählt die Geschichte der Rettung der Bündner Oberländer Schafe vor ein paar Jahren in einer Kurzfassung so: «Ich wusste, dass das Tavetscher- respektive das Val-Nalpser-Schaf mit den eigentümlichen, ziegenartigen Hörnern ausgestorben war. Nur an den Ganten, den staatlichen Schafaufkäufen, sollten ab und an noch ein paar Tiere auftauchen.»

1984 fuhr Grünenfelder an die Gant von Curaglia oberhalb von Disentis – und kam zu spät. «Man sagte mir, dass ein paar der wenig begehrten Tiere aufgetaucht, verkauft und wohl bereits in Disentis auf einem RhB-Wagon auf der Fahrt zum Metzger seien.» Wie der Teufel fuhr er nach Disentis und sah im bereits zur Abfahrt fertigen Zug ein wunderschön behorntes, weibliches Jungtier und einen Widder, der zumindest der alten Rasse glich. «Wir überredeten den Bahnhofvorstand, den Zug noch nicht abfahren zu lassen, den Wagen zu öffnen und uns die Tiere zu übergeben.» Der Rest ist Geschichte.

Zu dieser Geschichte gehört auch, dass Silvio Pfister vor 24 Jahren bei Pro Specie Rara vorstellig wurde und eine Zuchtgruppe des Bündner Oberländer Schafes erhielt. Derzeit hat er etwa 35 Muttertiere und entsprechend viele Jungtiere. Die Tiere haben verschiedene Farben und von Natur aus sind nicht alle behornt. «Das Fleisch ist feinfaserig, erinnert schwach an Wild und Absatzsorgen habe ich keine. Denn wer einmal davon gegessen hat, will nie mehr anderes Schaffleisch.»

Nur mit dem Schlachten hat er ein Problem: «Ich bin ja gelernter Metzger. Doch meine eigenen Tiere schlachten … das kann ich irgendwie nicht.» Das macht ein befreundeter Berufskollege in einem Nachbardorf für ihn. Überhaupt hat Pfister ganz sanfte Seiten: «Weisst du, wenn ich Zeit habe, dann kann ich mich mitten in die Schafe setzen und ihnen zuschauen – stundenlang. Sie sind total anhänglich und würden auch nie ausbüxen, solange sie gut behandelt werden.»