Das Sirren der elektrischen Schere tönt durch den grossen Stall auf dem Hof der Luginbühls. Dutzende Tiere äugen skeptisch über die Absperrung des Wartebereichs, während ihrem Kumpel der Woll-Pullover abgenommen wird. Wer will denn schon den Sommer in Winterbekleidung verbringen? Strich um Strich weicht das Vlies unter dem Schergerät des professionellen Lama-Scherers Ben Wheeler. Angefangen wird am Rücken, dann vom Rückgrat nach unten zum Bauch hin. Nun noch die Beinrasur. Nach acht Minuten ist alles vorbei und das Lama deutlich schlanker. Die Pediküre folgt auf dem Fuss, denn auch die sogenannten Schwielensohler brauchen regelmässig Pflege – die Nägel müssen geschnitten werden. Sind sie zu lang, besteht die Gefahr, dass sich die Zehen verdrehen. 

Was die Artgenossen im «Wartezimmer» angesichts des gefesselten Freundes denken, bleibt ihr Geheimnis. Doch Lama- und Alpaka-Farmer Arnold Luginbühl aus Aeschi bei Spiez BE erzählt: «Bei Tieren, die das schon seit einigen Jahren kennen, spüre ich eine regelrechte Wonne, endlich das Fell loszuwerden! Und spätestens, wenn sie frisch frisiert wieder auf ihren Beinen stehen, machen sie einen befreiten Eindruck.»

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Der Brite Ben Wheeler (l.) ist Spezialist für die Schur von Lamas und Alpakas. © Christina Burghagen

Zwar ist es eine umstrittene Methode, die Schurtiere auf einem Tisch ausgestreckt festzubinden. Doch der Landwirt mit den Andentieren sieht das gelassen: «Die Streckmethode ist die sicherste für Mensch und Tier.» Es sei nicht auszudenken, was alles passieren könne, wenn der Scherer gerade ansetze und das nur locker angebundene, stehende Lama oder Alpaka schlage aus. «Sogar wir haben hin und wieder kleine Verletzungen beim Tier zu verbuchen, wenn das Tier sich zu sehr wehrt, aber das ist immer harmlos. Richtig schlimme Unfälle passieren eher Scherern mit falsch verstandenem Schmusekurs.»

Ein Brite reist rund um die Welt, um Lamas und Alpakas zu scheren
Der Nächste bitte: Ein flauschiges Alpaka ist der neue Kandidat, der für sieben bis acht Minuten auf dem Tisch fixiert wird. Mit geübten Handgriffen werden die Beine in die Schlaufen gefädelt und festgezurrt. Besonders erfreut scheint der Wuschel nicht zu sein, aber er fügt sich seinem Schicksal. Nun noch ein Kissen unter den Kopf des Tieres, damit es bequem liegt, und das Schergerät fängt wieder an zu sirren. Die fallende Wolle wird rasch weggeräumt und in Säcken verstaut. Luginbühls exportieren die Rohwolle direkt nach Deutschland und Italien. Die Abnehmer stellen Bekleidung und Duvets daraus her. 

Für die schweisstreibende Scher-Arbeit wird Ben Wheeler aus Grossbritannien eingeflogen. Jedes Jahr verbringt er circa acht Tage auf dem Hof der Luginbühls. Der Brite hat sich auf die Schur von Lamas und Alpakas spezialisiert. Wheeler befreit jährlich rund 9000 Tiere von ihrem Winterfell – in Europa und Australien. In diesem Jahr kamen 265 Lamas und Alpakas von Luginbühls zur Schur. Weitere 153 Tiere von andern Tierhaltern und Hobbyzüchtern wurden hergebracht. «Wir bieten einen Rundum-Service an: Von der Schur über die Fusspflege bis zur tierärztlichen Versorgung durch meine Frau Ulrike, falls nötig», erklärt Luginbühl. Das ist praktisch für die Kunden, denn sie müssen die Tiere nur herbringen und wieder mitnehmen. Den Rest erledigen Luginbühls. «Wenn man einen Scherer buchen muss für ein paar Tiere und das Equipment und die Räumlichkeiten noch nicht hat, kann das teuer werden. Hier zahlt man fürs Alpaka 40 Franken, fürs Lama 45 Franken.» Der Service des Lama-Zentrums ist beliebt – und verglichen mit einem menschlichen Coiffeur-Besuch auch noch preiswert.

Die Bauchwolle der Anden-Tiere ist von besonders feiner Qualität
Wie gut die Wollqualität ist, hängt davon ab, von welcher Stelle am Körper des Tieres sie den Lamas und Alpakas entnommen wird. Denn es besteht ein Unterschied zwischen dem Vlies am Bauch, am Rücken und an den Beinen. Von der Schulter bis zur Taille und hinunter zu beiden Seiten des Körpers bis zu den Ellbogen und der Leiste befindet sich die erstklassige Wolle. Der Bereich entlang der Wirbelsäule vom Nacken bis zur Taille ist hingegen meist durch Wettereinflüsse beeinträchtigt und sollte daher mit dem höherwertigen Vlies nicht vermischt werden, da dies zu Qualitätseinbussen führen würde. Die Wolle am Hals von Neuweltkameliden ist sogar unbrauchbar zur Weiterverarbeitung, da sie sehr viele Grannen aufweist, wie die besonders langen, vom Fell abstehenden Haare genannt werden. Auch die Wolle von den Beinen ist nicht verwertbar und landet im Müll. Sortiert wird nicht nur nach Qualität, sondern auch nach Farbe. 

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Frisch geschoren sieht die Alpakagruppe den warmen Monaten gelassen entgegen. © Christina Burghagen

Das Wetter spielt bei der Schur von Lamas und Alpakas eine entscheidende Rolle. Das Scheren sollte an trockenen Tagen stattfinden, denn ein feuchtes Vlies muss vor der Lagerung getrocknet werden. Ausserdem wäre es gefährlich, nasse Tiere mit einer elektrischen Schneidemaschine zu scheren. Hohe Feuchtigkeit erfordert aber nicht nur besondere Sorgfalt bei der Aufbewahrung oder beim Verpacken der Wolle. Durch Feuchte kann es auch zu Pilzbefall kommen, was selbstverständlich auch zu Qualitätseinbussen führt. 

Das Fell darf nicht zu kurz geschoren werden, da es vor Sonnenbrand schützt
Wegen des langen Winters wurde dieses Jahr spät geschoren. «Lamas und Alpakas sollten aber geschoren werden, bevor es richtig heiss wird. So kann das Fell bis zum Sommer noch etwas nachwachsen. Denn wenn die Haare zu kurz sind, besteht Sonnenbrand-Gefahr», erklärt Luginbühl. Vor dem Scheren wird das Vlies von Heu und sonstigen Verunreinigungen gesäubert. «Wer nur zwei, drei Hobby-Tiere hat, kann sie mit der manuellen Handschere gut pflegen», sagt der Lama-Spezialist. Früher hat er selbst geschoren, wurde aber dauernd gestört durch das tägliche Einerlei seines Betriebes. «Mit Ben geht das in einem Rutsch», freut sich Luginbühl. Wenn die Tiere jedes Jahr geschoren würden, könne man Parasitenbefall am besten bekämpfen. Ist die Wolle noch dran und das Tier befallen, steht man auf verlorenem Posten. Nach der Schur ist die Behandlung kein Problem. Auch trächtige Stuten werden geschoren. «Die künftigen Mamas fühlen sich einfach besser», sagt Luginbühl. Lediglich ältere Tiere lässt er nicht jedes Jahr scheren, weil sich mit zunehmendem Alter der Fellwuchs verlangsamt. 

Ben Wheeler nimmt das nächste Alpaka unter die Schere. Es lässt die Prozedur ziemlich gelassen über sich ergehen. Nachdem es aus den Schlaufen und von der Wolle befreit wurde, springt es erleichtert auf die Weide zurück. Seine Artgenossen grasen schon sommerlich gestylt über dem Thunersee – als wären sie in ihrer südamerikanischen Heimat.

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