Svenja erkennt offensichtlich keinen Grund aufzustehen, obwohl sich ihr wildfremde Menschen nähern. Svea und Sven tun es ihr gleich – sie liegen im Gras und käuen wieder. Eigentlich sollten sie jetzt stehen und wir sie putzen, um uns mit ihnen anzufreunden. Dafür sind wir gekommen. Egal. Wir nehmen Striegel und Bürste und widmen uns halt der liegenden Kuh. Mein Einsatz scheint nicht unwillkommen. Ich arbeite mich vom massigen Körper zum Kopf vor. Beim Striegeln am Hals schliesst die Kuh die Augen. Ich glaube, sie mag das.

«Kuhkuscheln» heisst das Angebot, mit dem Sibylle Zwygart auf dem Hof Gisiberg in Tenniken BL bereits vielen Menschen Freude bereitet hat. Seit etwas mehr als zwei Jahren darf man hier in ganz nahen Kontakt zu diesen Tieren treten. Die Kuh ist zwar allen bekannt, ansonsten wissen Laien aber wenig über sie. «Viele Erwachsene erzählen mir, sie hätten schon sehr lange den Wunsch, einmal eine Kuh richtig berühren zu können», sagt Sibylle Zwygart. Ihre Kunden – Frauen, Männer und etwas seltener Kinder – kommen aus der Schweiz und aus dem Süden Deutschlands.

Den Anfang macht eine kurze theoretische Einführung. Wie nähert man sich der Kuh? Wie erkennt man, ob sie Stress hat, ob sie angreifen will? Was bedeuten Ohrenanlegen, Schwanzschlagen, Kopfsenken, Backenrunzeln? Auf das Putzen folgt «Kuscheln». Ist genügend Vertrauen da und hat die Kuh sich hingelegt, setzt man sich zu ihr, streichelt und krault sie. Wer will, darf sich nun gerne an sie schmiegen. Es ist eine schöne Art von Körperkontakt. Die Ruhe des Tiers, das warme Fell, das Schnaufen und das Wiederkäuen sorgen für eine entspannte Stimmung. Der Alltagsstress ist bald weit weg.

Behutsames Training nötig
Damit dies alles überhaupt möglich ist, hat die angehende Tierärztin drei Jersey-Rinder entsprechend ausgebildet. Sie sicherte ihnen damit das Weiterleben auf dem elterlichen Hof. Svenja, Svea und Sven, zwei weibliche und ein männliches Tier also, wurden 2013 als Drillinge geboren. Eine solche Konstellation wirkt sich im Mutterleib ungünstig auf die Entwicklung der Geschlechtsorgane aus. Die weiblichen Kälber bleiben unfruchtbar. Auf dem Betrieb Gisiberg mit dem Schwerpunkt Milchwirtschaft stand fest: «Die Kuhkälber sollten geschlachtet werden, auch der Muni, für den es ebenfalls keinen Verwendungszweck gab», blickt Zwygart zurück. Doch die junge Frau suchte nach einer Lösung für die drei, die sie zu sehr ins Herz geschlossen hatte. Auf die rettende Idee des Kuhkuschelns kam sie, als sie von einem solchen Angebot in den Niederlanden hörte. Heute sorgen die Einnahmen aus den Kuschel-Terminen sowie Paten dafür, dass die Haltungskosten gedeckt sind.

Erst striegeln, dann kuscheln:

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Hinter der Ausbildung der Tiere steckt viel Arbeit. Einfach so würden sich Kühe nicht derart zutraulich verhalten. «Fremde Leute sind eigentlich Stress. Die Drillinge mussten zuerst lernen, dass ihnen diese Menschen nichts Böses wollen», sagt Zwygart. Obwohl Kühe gern gegenseitige Körperpflege betrieben, lasse sich Kuhkuscheln nur mit dafür geeigneten Tieren realisieren, sonst könne es gefährlich sein: «Die Kühe müssen das mögen.» Beim Kuhkuscheln ist Sibylle Zwygart selber stets dabei. Dank ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen erkennt sie sofort, ob es den Tieren wohl ist. «Ich bin vielleicht etwas übervorsichtig, aber dass es allen Beteiligten gut geht, ist am wichtigsten.» 

Dazu kommt: «Eine Kuh kannst du nicht zwingen, dies oder das zu machen. Es braucht viel Überzeugungsarbeit und Motivation.» Neben dem Üben, wie sie sich gegenüber den Menschen verhalten sollten, galt es auch, den Tieren Eigenschaften abzugewöhnen, das Ablecken oder An-Kleidern-Knabbern etwa. 

Zum Training gehört angepasste Bodenarbeit, im Winter geht die 27-Jährige regelmäs­sig mit dem Trio spazieren. An belustigte Blicke hat sie sich längst gewöhnt. Sie lässt Schlitten oder Kutsche ziehen und hat dabei Vorlieben ausgemacht: «Svenja findet das Ziehen toll, Svea beherrscht Aufgaben aus der Pferdedressur.» Die meiste Zeit geniessen die Jersey-Drillinge das normale Herdenleben mit den Milchkühen auf der Weide.

Grosse Nachfrage
Die Zuneigung zur Kuh erwachte bei Sibylle Zwygart schon früh. «Mein Herz schlägt für Kühe, sie sind meine absoluten Lieblingstiere», macht sie klar. Als Kind schlief sie hin und wieder gerne zwischen den Tieren im Stroh. Die Erlebnisse im Kuhstall sind auch der Grund für den Berufsentscheid Tierärztin mit Schwerpunkt Nutztiere. Um das Verständnis zu fördern, organisiert sie zusätzlich Kuh-Knigge-Kurse. In diesen geht es um Verhaltenstipps, beispielsweise für das Durchqueren einer Kuhweide auf einer Wanderung.

Die Nachfrage nach dem Kuhkuscheln ist gross. Neben ihrer Berufstätigkeit am Tierspital Bern kann Zwygart aber nur am Wochenende Termine anbieten – und die sind auf lange Zeit ausgebucht. Sie weiss, dass sich  andere Tierhalterinnen den Einstieg überlegen. «Ich denke, der Bedarf wäre da.»

Ein unangenehmer Graupelschauer hat uns von der Weide vertrieben. Nach einer Kaffeepause machen wir einen weiteren Besuch, jetzt im Unterstand. Gemütlich sitzen wir noch etwas zwischen den liegenden warmen Kühen im Stroh und plaudern. Ob wir die Tiere stören, weiss ich nicht – aber ich habe nicht den Eindruck. Wir sind einfach zusammen da. Und eigentlich hätte ich gerade Lust, hier noch einige Zeit so angelehnt zu sitzen und ein Buch zu lesen.