B ei Sport-, aber auch bei Freizeitpferden gehören laut dem erfahrenen Pferdetierarzt Marco Hermann Sehnenschäden zu den häufigeren Verletzungen. Und es gibt vermutlich nichts, was Pferdebesitzer und Reiter mehr fürchten. «Denn Sehnenverletzungen sind in erster Linie eine Geduldsprobe für Mensch und Tier», sagt Hermann. Ihre Behandlung ist zudem teuer und erfordert viel Disziplin bei der Durchführung eines monatelangen, strikten Bewegungsprogramms. 

Um den langen Heilungsprozess zu verstehen, hilft ein Blick auf die Funktion und Anatomie der Sehnen. Sehnen sind, vereinfacht gesagt, die Verlängerungsarme der Muskeln. Sie befestigen die Muskeln an mindestens zwei Punkten am knöchernen Skelett. Die Kraftübertragung des Muskels erfolgt über die zugehörige Sehne. Sie überzieht ein oder mehrere Gelenke und bewegt diese, wenn sich der Muskel an- und entspannt.

Oft lahmen die Pferde nicht
Die sehnigen Strukturen sind an sämtlichen Bewegungen des Pferdes beteiligt. Die Zugfestigkeit von Sehnen ist gross: pro Quadratzentimeter Querschnitt hält eine Sehne eineinhalb Tonnen Zuggewicht aus. Diese Festigkeit liegt im Aufbau der Sehne begründet. Sehnen bestehen aus straffen, hauptsächlich längs und parallel verlaufenden Bindegewebsfasern. Diese sind zu Bündeln vereinigt, die von einem Gewebemantel umgeben sind. Mehrere dieser Bündel, umgeben von einer weissen, faserigen Sehnenhaut, ergeben eine Sehne. Darin gibt es nur wenige Blutgefässe, weshalb sich Sehnen nur schlecht regenerieren und heilen. 

Besonders anfällig beim Pferd sind die oberflächliche und die tiefe Beugesehne mit ihrem Unterstützungsband sowie der Fesselträger, ein sehnenartiger Komplex, der die Fessel trägt. Diese Gewebestrukturen lassen sich bei angehobenem Bein auf der Rückseite des Röhrbeins des Pferdes gut ertasten. Die Strecksehne an der Vorderseite nimmt dagegen eher selten Schaden, da sie einer geringeren Belastung ausgesetzt ist.

Wird eine Sehne über ihre Belastungsgrenze hinaus gedehnt, reissen einzelne Fasern, Bündel oder sogar die ganze Sehne. Das verletzte Gewebe reagiert mit einer Entzündung, der betroffene Bereich ist warm oder heiss, schwillt an und bildet häufig einen typischen bananenförmigen Sehnenbogen an der Rückseite des Röhrbeins. Oft lahmen die Pferde nicht oder nur leicht. Bei grösseren Sehnenschäden, wie einem sogenannten Niederbruch, dem vollständigen Zerreisen des Fesselträgers, der bei Rennpferden vorkommt, ist jedoch eine hochgradige Lahmheit zu beobachten.

«Bei Verdacht auf eine Sehnenverletzung muss ein Tierarzt beigezogen werden», betont Hermann. Dieser wird das Ausmass des Schadens beurteilen und bei Bedarf eine Ultraschalluntersuchung machen. Bei einer Überdehnung oder einer Zerrung sind die Heilungsaussichten in der Regel gut. Ist ein Grossteil der Sehnenfasern beim Pferd gerissen, ist der Heilungsverlaufs schwierig vorherzusagen. Unter Berücksichtigung von der Art der Verletzung, aber auch abhängig vom Pferd, seinem Alter und Einsatzgebiet, wird der Veterinär individuell geeignete Therapieformen vorschlagen. 

Heilung dauert bis zu 14 Monate
«Eine verletzte Sehne braucht vor allem Zeit», sagt Hermann. «Bis ein schwerer Sehnenschaden ausgeheilt ist, kann es bis zu 14 Monate dauern.» Als Sofortmassnahme verordnet der Tierarzt für einige Tage das Kühlen der betroffenen Gliedmasse unter fliessendem Wasser, mit Angussverbänden oder Umschlägen, um die Schwellung und die Schmerzen zu lindern. Danach wird abwechselnd mit Kälte und Wärme weiterbehandelt, um die Durchblutung und den Regenerationsprozess anzuregen.

Während man früher bei verletzten Sehnen Entzündungen, zum Beispiel mit scharfen Einreibungen, provoziert hat oder das Brennen von Sehnen üblich war, sind diese Methoden heute nicht mehr zu rechtfertigen. Die moderne Tiermedizin kennt fortschrittlichere und tierfreundlichere Behandlungsansätze. So sollen heute Injektionen mit Hyaluronsäure, Therapien mit konzentrierten Blutplättchen oder Stammzellen die Selbstheilungskräfte des Körpers anregen und unterstützen. 

Das Gleiche gilt auch für Behandlungen mit Ultraschall, Stosswellen, Magnetfeldern und therapeutischen Massagen, die beim Pferd für eine bessere Durchblutung des Gewebes und damit einen besseren Heilungsverlauf sorgen sollen. Denn durch die geringe Gefässversorgung in der Sehne besteht stets die Gefahr, dass sich unerwünschte bindegewebsartige Vernarbungen bilden anstatt der gewünschten leistungsfähigen Fasern in Längsrichtung. Weil dieses Narbengewebe nicht so elastisch und belastbar ist, droht ein Teufelskreis.

Der zentrale Faktor zur Vermeidung dieser Verklebungen in den heilenden Sehnen ist kontrollierte Bewegung. Da Boxenruhe kontraproduktiv ist, verschreiben Tierärzte diese höchstens in den Anfangstagen oder bei einer sehr schweren Sehnenverletzung. Sonst ist ein möglichst frühzeitig einsetzendes Rehabilitationsprogramm angesagt. Freier Auslauf auf der Weide oder dem Paddock ist dabei in der Regel tabu, dafür soll das Pferd auf möglichst geraden Strecken und guten, ebenen Böden bewegt werden. Tiefe, matschige Böden sowie enge Wendungen sollte das Pferd vermeiden. In grossen Ställen oder Reha-Kliniken wird oft auch mit Laufbändern und Aqua-Training gearbeitet. 

Der Heilungsverlauf wird in regelmässigen Abständen alle paar Wochen mit Ultraschalluntersuchungen kontrolliert und falls nötig werden Anpassungen der Therapie vorgenommen. Manchmal muss ein Pferdebesitzer jedoch auch herbe Rückschläge einstecken: Reisst sich etwa ein ungeduldiges Pferd, das genug hat von der eintönigen, kontrollierten Bewegung, los und galoppiert über die Wiese, kann die Aufbauarbeit von mehreren Monaten mit einem Schlag zunichte sein. Rückfälle kann es auch geben, wenn die Arbeit mit dem Pferd zu früh oder zu intensiv aufgenommen wird. 

Schon beim Fohlen vorbeugen
Doch selbst bei grosser Geduld und Disziplin von Pferd und Reiter ist nicht jeder Sehnenschaden vollständig heilbar. Vorbeugen ist daher bei Sehnenverletzungen besonders wichtig. Der Grundstein für gesunde Sehnen wird bereits bei der Aufzucht gelegt. Nur bei Fohlen, die optimal und bedarfsgerecht gefüttert werden und sich beim Herumtollen auf der Weide viel bewegen, kann sich der Bewegungsapparat und mit ihm die Sehnen stabil ausbilden. Junge Pferde dürfen nicht zu früh belastet werden und auch im späteren Training ist jede Art von Überforderung des Pferdes zu vermeiden. 

Ausbildung und Arbeit müssen dem Alter und der Kondition des Pferdes angepasst sein. Ein sorgfältiges Aufwärmen des Pferdes vor jedem Einsatz ist Pflicht: Kaltstarts sind nicht nur Gift für die Muskeln und Gelenke, sondern auch für die Sehnen. Nach jedem Training, Ausritt oder Wettkampfeinsatz sollte der Reiter die Sehnen des Pferdes abtasten. Handelt er sofort, wenn sie sich warm oder angeschwollen anfühlen, kann er damit weitere und grös­sere Schäden verhindern.